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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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wieder schaute er auf zu Rasmussens Altarbild, das Jesus zeigte, wie er den Sturm auf dem See Genezareth besänftigt. Draußen in der Welt raste der Krieg weiter. Es starben mehr Männer als je zuvor, und in seinen Büchern notierte er die Zahlen der Verluste. Manchmal dachte er, er sei ebenso ein Idiot wie Anders Nørre, ein Mann, dessen einziger Strohhalm der Vernunft endlose Zahlenreihen waren, die wie elektrische Blitze durch die dunkle Nacht seines Gemüts fuhren. Was hätte Jesus inmitten eines Weltkriegs getan, in dem ein einzelner Gekreuzigter mit dem Stich einer Lanze in der Seite nicht auffiel, wenn Millionen im Stacheldraht hingen und mit ihren eigenen Eingeweiden in den Händen starben?
    Er selbst notierte Zahlen. Konnte man nur so diese unfassbare Vernichtung ertragen? Wenn jemand seine Kontorbücher fand, was würde er wohl denken? Dass ein Idiot sie verfasst hatte?
    Er erhob sich aus der harten, blau lackierten Holzbank und schauderte. Es war kalt in dem weiß gekalkten Kirchenraum. In der Hand hielt er ein Telegramm. Es war an die Reederei gerichtet und enthielt die offizielle Mitteilung über den Verlust des Dreimast-Bramsegelschoners Ruth. Ort: Atlantik. Auf der Reise zwischen St. John’s und Liverpool. Art des Verlustes: Ausbleiben. Wind- und Wetterverhältnisse: unbekannt. Es war ein Rechenexempel mit einem traurigen, wohlbekannten Ergebnis: «Seit der Abfahrt aus Neufundland ist nichts über die Ruth bekannt. Vermutet wird ein Untergang mit Mann und Maus.»
    Diese dürre Feststellung sollte er in menschliche Sprache übersetzen.
    Lauter unbekannte Faktoren: Das Schiff war irgendwo auf dem weiten Atlantik verschwunden. Es konnte innerhalb eines Radius von tausend Seemeilen überall geschehen sein. Ursache: Vereisung, Sturm, eine falsche See, ein plötzlich auftauchendes, gepanzertes Monster aus der Urzeit, das mit Torpedos und einer treffsicheren Unbarmherzigkeit ausgestattet war, als Erinnerung daran, dass der Seemann auch andere Feinde hat als das Meer. Die Summe all dieser Faktoren bedeutete den Tod eines jungen Mannes, sein Fortbleiben für immer. Und Hansigne Koch, eine Seemannswitwe, die zwei Jahre zuvor ihren siebenjährigen Sohn
bei einem Unglück im Jollenhafen verloren hatte, musste sich dieser Tatsache stellen.
    Das war seine Aufgabe. Er sollte einem Menschen in den Hafen helfen oder zumindest verhindern, dass er in dem Moment, in dem er die Nachricht erfuhr, von der Tiefe verschlungen wurde.
     
    Von seinem Erker aus hatte er Lorentz über die Straße kommen sehen. Er hielt das Telegramm in der Hand. Mit Mühe nahm er auf dem Sofa Platz, nachdem er seinen Mantel im Flur aufgehängt hatte. Die vielen aktiven Jahre hatten ihn ziemlich mitgenommen, er litt wieder unter den Schwächen seiner Kindheit, vor allem der Kurzatmigkeit, insbesondere in den kalten Wintermonaten. Einen Herzanfall hatte er bereits hinter sich. Seine Schultern hoben und senkten sich, und er atmete keuchend, gurgelnd. Es war anstrengend, bei der steifen, mit Schneeregen vermischten Brise über die Straße zu gehen. Lorentz hatte vergessen, seinen Hut aufzusetzen, und die wenigen Haare klebten feucht an seiner Glatze. Das Buddha-Gesicht glühte rot, den unvermeidlichen Stock hatte er mit in die Stube gebracht.
    «Diesmal ist es die Ruth», sagte er nur.
    Lorentz hatte bereits zwei Schiffe verloren, und immer hatte er selbst die Hinterbliebenen unterrichtet. Bestimmt hätte er es auch diesmal getan, doch in seinem Zustand wäre ein Spaziergang durch die Stadt ein Kraftakt gewesen, der ihn letztlich teuer zu stehen kommen konnte. Und er war inzwischen zu alt, um noch auf ein Pferd zu steigen.
    «Du hast deinen Hut vergessen», sagte Albert. «Lass mich es übernehmen.»
    Albert war die Kirkestræde hochgegangen, um Pastor Abildgaard zu informieren. Dann hatte er sich in die Kirche gesetzt, um sich zu sammeln, wie er es stets tat, und nun stand er vor einer Haustür in der Vinkelstræde. Hansigne Koch öffnete selbst.
    «Ich weiß, warum Sie gekommen sind», erklärte sie ruhig, als sie Alberts massive Gestalt vor der Tür sah.
    «Es ist Peter.»
    Sie sagte den Namen des Sohnes, und in diesem Moment schien sie ein Stromstoß zu durchzucken. Sie wurde blass unter den Augen, und ihre Lippen begannen zu zittern.

    «Bleiben Sie nicht da stehen», herrschte sie ihn plötzlich in einem kommandierenden Ton an, und er merkte, wie sie mit ihrer Barschheit versuchte, den Zusammenbruch aufzuhalten. Sie verschwand in die Küche, um

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