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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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…»
    In der Stimme des jungen Mannes schwang ein Ton von Ungeduld mit, als spräche er mit einem Schwerhörigen.
    «Ich hätte die Tvende Søstre bis zur Hölle und wieder zurück segeln können, und obwohl sich der Frachtmarkt zuletzt verzehnfacht hat, hätte ich mit der Fracht trotzdem nicht so viel verdient wie mit dem Verkauf.»
    «Das ist kurzsichtig gedacht», sagte Albert.
    Die beiden waren nun die Hauptpersonen. Die anderen stellten sich im Kreis um sie auf, wie um zwei Duellanten. Ingenieur Henckel hatte die Hände auf den Rücken gelegt. Ein abwartendes Lächeln umspielte seine Lippen.
    «Wer sagt denn, dass ich wieder ein Schiff haben will? Ja, Schiffsreeder, das klingt so vornehm. Aber bald ist das vielleicht nur noch ein Titel ohne Bedeutung.»
    Albert hörte die Respektlosigkeit im Tonfall des anderen. Stand dieser Emporkömmling nicht hier und erklärte ihm, dass seine Zeit vorbei und seine Erfahrung wertlos sei?
    Einen Moment spürte er, wie Zorn in ihm aufstieg. Er musterte den jungen Mann, der mit gespreizten Beinen und einer höhnischen Miene vor ihm stand. Seine Hemdsärmel waren an diesem warmen Sommerabend nachlässig aufgekrempelt, so dass man den Löwen sehen konnte, der sich zum Angriff bereit machte, darüber die Worte «Smart and Poverfull».
    «Du hast ja zwei Rechtschreibfehler in deiner Tätowierung.»
    Albert bereute es sofort. Er hatte sich vergessen. Es war doch sinnlos zu kontern. Herman war hart, möglicherweise abgestumpft. Seine Härte war ein Zeichen der Zeit. Und er selbst? Seine Zeit war vorbei. Aber die der Stadt auch. Sie begriffen es nur nicht.
    Herman trat einen Schritt vor. Seine großen Fäuste waren geballt, aber Henckel legte eine Hand auf Hermans Schulter; er blieb stehen, als hätte man ihm etwas ins Ohr geflüstert.
    Albert wollte sich gerade mit einem kurzen Nicken von der Gruppe verabschieden, als der Ingenieur das Wort ergriff.
    «An dem, was Sie gerade sagten, ist vieles richtig. Ich gehe gewiss nicht fehl in der Annahme, wenn ich vermute, dass hier ein alter Seemann
spricht. Ich selbst bin im Kopenhagener Seemannsviertel Nyboder aufgewachsen, und mein erster Lehrplatz war die Marinewerft. Ich erkenne einen Seemann, wenn ich ihn sehe, und ich weiß, was die Liebe zur See bedeutet.»
    Herman erstarrte. Ein gefährliches Funkeln trat in seine Augen, als hätte er das Gefühl, jemand falle ihm in den Rücken, doch Henckel fuhr ungerührt fort.
    «Die dänische Seefahrt erlebt ja eine Renaissance. Dank des Krieges befindet sie sich im Aufschwung, und an diesem Aufschwung gilt es festzuhalten.»
    Henckel nickte Herman zu.
    «Schiffbau! Werften! Das ist es, was das Land benötigt. Nun wird Marstal seine eigene Stahlschiffswerft bekommen. Die Eisenschiffswerft in Kalundborg, Vulcan in Korsør, bei aller Bescheidenheit, dahinter stehe ich. Und nun ist Marstal an der Reihe.
    Von Herman habe ich die Idee einer Schiffswerft in Marstal. Er steht bereits als Miteigentümer fest. Ja, er ist wahrscheinlich zu bescheiden, um es selbst zu erwähnen. Doch die ganze beträchtliche Summe, die der Verkauf der Tvende Søstre einbrachte, hat er in die neue Stahlschiffswerft investiert. Als Erster. Wir bauen hier die Zukunft der Stadt. Und der dänischen Seefahrt.»
    Seine große sommersprossige Hand mit der dichten rotblonden Behaarung schlug Herman vertraulich auf die Schulter.
    «Tja, Herman. Marstal hat Grund, stolz auf dich zu sein. Du bist ein wahrer Sohn der Stadt.»
    Albert sah von Henckel zu Herman, der friedlich die Hand des Ingenieurs auf seiner Schulter ruhen ließ, und er begriff, dass der Kopenhagener Ingenieur etwas vollbracht hatte, was niemand sonst vermochte: Er hatte Herman gezähmt. Vielleicht hatte er jedes Mal, wenn der Phantast mit seinen hochfliegenden Plänen prahlte, nur genickt, statt den Kopf zu schütteln. Aber Albert spürte noch etwas anderes. Wenn Henckel Hermans Lehrmeister war, dann deshalb, weil er an die Skrupellosigkeit in ihm appellierte. Sie waren aus dem gleichen Holz.
    Albert grüßte nachlässig mit dem Stock. Er wollte mit dem Sommerabend allein sein, bevor er nach Hause ins Bett zu seinen quälenden Träumen ging.

    Hinter sich hörte er, wie der Ingenieur die Gruppe zu Champagner ins Hotel Ærø einlud. Es erklang vergnügtes Gelächter. Er drehte sich nicht um, sondern ging bis zum Gedenkstein. Plötzlich hatte er das Gefühl, zu lange gelebt zu haben.
    Er glaubte weder an Ingenieur Henckels Versprechen noch an Hermans Aufschneidereien.

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