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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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aber wagemutig. Seine Augen funkelten.
    «Wohin soll ich uns heute rudern?»
    Sie lagen mitten in der Hafeneinfahrt und sahen die Erindring an der Dampskibsbro vorbeifahren. In einem schwarzen Band kam der Rauch aus dem hohen, schlanken Schornstein. Albert schaute dem Dampfer lange nach. Er wusste, dass er nicht zurückkehren würde. Der taube Sandgräber der Stadt ruderte in seinem Boot an ihnen vorbei, und der Junge winkte ihm zu.
    «Du sollst den Rhythmus halten», ermahnte ihn Albert.
    In dieser Nacht hatte er seinen letzten Traum. Er wusste, dass es der letzte war, denn er begann ebenso wie der erste dreißig Jahre zuvor. Er hörte dieselbe Stimme: «Du steuerst auf Gefahr zu.»
    Er erwachte nicht.
    Er war auf keinem Schiff wie beim ersten Mal, als er die Stimme des fremden Gastes in seinem Kopf hörte. Auf einem Schiff war er schon viele Jahre nicht mehr gewesen. Er hätte aus seinem Bett springen, auf den Balkon laufen und hinaus in die Dunkelheit blicken können. Aber es gab niemanden vor einem Schiffsuntergang zu retten. Er befand sich an Land. Doch er wusste nicht mehr, ob es ein sicherer Ort war.
    Es war ein seltsamer Traum, voller schrecklicher Ereignisse, und genau wie die Träume, die ihm einst den Ausbruch des Krieges angekündigt hatten, verstand er ihn nicht.

     
    Am nächsten Tag erzählte er dem Jungen seinen Traum.
    «Ich hatte heute Nacht den seltsamsten Traum», begann er.
    Der Junge sah ihn erwartungsvoll an.
    «Erzähl schon», sagte er ungeduldig, als er merkte, dass der alte Mann einen Augenblick zögerte.
    «Ich sah ein Phantomschiff», begann Albert. «Ja, ich sah so viele Phantomschiffe. Aber das war nicht das Merkwürdigste.»
    «Was ist ein Phantomschiff?», wollte der Junge wissen.
    «Ein Geisterschiff.»
    «Wie, ein Geisterschiff?»
    «Nun ja, alles an dem Schiff war grau. Es gab überhaupt keine anderen Farben, nur diese eine.»
    «So wie bei einem Kriegsschiff?», fragte Knud Erik, obwohl er nicht alt genug war, um sich an den Besuch der Torpedojäger im Hafen zu erinnern.
    «Ja, genau wie bei einem Kriegsschiff, aber es war kein Kriegsschiff. Es war ein Frachtschiff, ein Dampfer, etwa so wie die Erindring, nur ganz grau .»
    «Und was dann?»
    «Tja, nun kommt das Merkwürdigste. Es war mitten in der Nacht und dennoch so hell wie am Tag. Hoch oben am schwarzen Himmel hingen die klarsten Lichter. Nur hingen sie nicht still, nicht so wie die Sterne. Sie bewegten sich langsam auf das Wasser zu, und wenn sie es berührten, erloschen sie. Aber es kamen ständig neue. An Land brannten Gebäude, aber sie sahen nicht wie Gebäude aus, wie wir sie kennen. Sie waren groß, kreisrund und ohne Fenster. Und die Flammen, die aus ihnen schlugen, waren noch höher als die Gebäude selbst. Und überall schossen Kanonen, es war ein Dröhnen, wie du es dir überhaupt nicht vorstellen kannst. Und Flugzeuge. Weißt du, was Flugzeuge sind?»
    Der Junge nickte.
    «Was haben die Flugzeuge gemacht?»
    «Sie warfen Bomben, und die Schiffe wurden in Brand gesteckt und sanken.»
    Der Junge saß ganz still.
    «War das das Ende der Welt?»
    «Ja, vielleicht.»

    «Weißt du was?», sagte Knud Erik. «Das ist die beste Geschichte, die du je erzählt hast.»
    Albert lächelte und schaute übers Meer. Es gab einen Teil des Traums, den er für sich behalten hatte. In der Dunkelheit war es nicht möglich gewesen, den Namen des Phantomschiffs zu lesen. Aber mit der besonderen Gewissheit des Wiedererkennens, die seine prophetischen Träume ihn gelehrt hatten, wusste er eines genau: Der Junge befand sich an Bord. Er war dort, mitten im Ende der Welt.

    Albert hatte das Gefühl, dass auch in seinem Leben sich etwas einem Abschluss näherte. Es war nicht nur der Krieg. Er hatte noch offene Rechnungen. Die Negerhand auf Pastor Abildgaards Schreibtisch geisterte noch in seinem Kopf herum. Auch er besaß die Reste von jemandem, der einmal ein Mensch gewesen war, und glaubte, dass Josef Isager, den er für einen Menschenverächter hielt, moralischer gehandelt habe als er. Zumindest hatte Isager um ein christliches Begräbnis der Hand gebeten, die irgendwann einmal in seinem Koffer gelandet war, als wäre sie ein billiges Souvenir und nicht ein Körperteil, das brutal von einem Menschen abgetrennt worden war.
    Ein abgeschnittener Kopf in einer Schachtel – war das denn besser? Schuldete er nicht auch James Cook ein Begräbnis?
     
    Er ging zu Josef Isager in die Kongegade und klopfte an die Tür. Von drinnen war Lärm zu

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