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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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ihn.
    Knud Erik nickte.

    In Aabergs Wohnzimmer standen zwei eiserne Kisten.
    «Die sind mit mir bis nach Afrika und wieder zurück gereist», erklärte er.
    «Hast du sie selbst getragen?», wollte Knud Erik wissen.
    Aaberg lachte.
    «In Afrika trägt kein weißer Mann etwas selbst», antwortete er.
    Er öffnete eine der Kisten.
    «Schau, ein Negerspeer. Und ein Schild. Nimm das mal für mich.»
    Er gab Knud Erik den Speer und zeigte ihm, wie er den Schild zu halten hatte.
    «Jetzt bist du ein richtiger Negerkrieger.»
    Knud Erik richtete sich auf und hob den Arm, als wollte er werfen.
    «Nicht hier», warnte ihn Christian Aaberg. «Diese Spitze kann einen Mann töten.»
    Der Telegrafist Black, der in China gewesen war, hatte Mandarintrachten und Essstäbchen. Nur zu Josef Isager gingen sie nicht. Albert war der Ansicht, dass abgehackte Hände nichts für Kinder seien. Aber sie besuchten Emanuel Kroman, der Kap Hoorn umsegelt hatte und seine Stimme unheimlich klingen ließ, wenn er auf dem gefährlichsten aller Meere das Heulen des Sturms in der Takelage nachmachte.
    «Ich hörte den Schrei des Pinguins in der pechschwarzen Nacht», erzählte er. «Wir waren zweihundert Tage auf See. Das Wasser war aufgebraucht, und wir tranken geschmolzenen Schnee aus Weingläsern. Als wir in Valparaiso eintrafen, aßen wir einen ganzen Sack Kartoffeln. Wir haben sie nicht einmal gekocht. Solchen Hunger hatten wir.»
    «Habt ihr sie wirklich roh gegessen?», fragte der Junge.
     
    Überall, wo sie hinkamen, gab es Schiffskisten voller merkwürdiger Dinge. Es gab Haifischgebisse, Igelfische und die Säge eines Sägerochens, eine Hummerschere aus der Barentsee von der Größe eines Pferdeschädels, vergiftete Pfeile, Lavabrocken und Korallen, ein Antilopenfell aus Nubien, Krummsäbel aus Westafrika, eine Harpune aus Feuerland, Kalabassen aus Rio Hash, einen Bumerang aus Australien, eine Reitpeitsche aus Brasilien, Opiumpfeifen, ein Gürteltier aus La Plata und ausgestopfte Alligatoren.
    Und jedes einzelne Ding war eine Geschichte. Wenn der Junge eines
dieser niedrigen Häuser mit den hohen Dachfirsten verließ, tat er es jedes Mal mit einem Gefühl des Schwindels über die Unendlichkeit der Welt. Und in seinen Ohren flüsterten sie weiter: das lederne Tamtam vom Fluss Calabar, die Amphoren aus Kefalos, das indische Amulett, die ausgestopfte Zibetkatze im Kampf mit der Brillenschlange, die türkische Wasserpfeife, der Zahn eines Flusspferdes, die Maske von den Tongainseln und der Seestern mit den dreizehn Armen.
    «Einen halben Kilometer in dieser Richtung», erklärte Albert und wies die Prinsegade hinauf zum Marktplatz, «beginnt das Bauernland. Dort leben Menschen, die nur ihre eigene Erde kennen. Von der Welt über ihre Flurgrenze hinaus wissen sie nichts. Sie werden alt, und wenn sie eines Tages sterben, haben sie weniger gesehen als du schon jetzt.»
    Der Junge blickte zu ihm auf und lächelte. Albert spürte, wie die Sehnsucht des Jungen sich in alle Richtungen ausdehnte. Knud Erik besaß keinen Vater, aber Albert war dabei, ihm die Stadt und die See zum Vater werden zu lassen.
     
    So wurde es Frühjahr, und Albert brachte dem Jungen das Rudern bei.
    «Was für ein schönes Geräusch», stellte Knud Erik fest, als er auf der Ducht saß und die glucksenden Töne des Wassers hörte, das an beiden Seiten des klinkerbeplankten Boots, dessen schmale Holzplanken dachziegelartig übereinanderlagen, entlangleckte. Er hatte das Geräusch schon früher am Rand des Kais gehört. Nun umschloss es ihn von allen Seiten. Das war etwas anderes.
    Albert nahm seine Hände und legte sie auf die Ruder.
     
    Albert wusste nur zu genau, dass er Knud Erik ermunterte, aber ermunterte er ihn denn zu etwas anderem, als für einen Jungen in Marstal üblich war? Es hätte gar nicht anders sein können. Aber Klara Friis konnte er es nicht offen sagen. Er erkannte, wie verletzlich und unsicher sie durch ihr ungewohntes Leben als Witwe war. Vielleicht war es Feigheit, dass er Knud Erik nicht verteidigte. Er dachte nur, es sei noch zu früh. Eines Tages würde auch sie ihrem Sohn Lebewohl sagen müssen, doch es wäre ein anderes Lebewohl, nicht zu einem Toten, sondern zu einem Lebenden, der hinausmusste, um den Tod herauszufordern.
    Knud Erik lebte zwei Leben. Eines zu Hause, wo er seiner Mutter versprechen
musste, niemals Seemann zu werden. Und ein anderes mit Albert, in dem er davon träumte, so zu werden wie sein Vater. Blaues Meer und weiße Segel, das

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