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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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war noch immer in dasselbe verschlissene Tuch eingewickelt wie damals, als
er ihn vom Kapitän der Flying Scud erbte. Er entfernte das Tuch und hielt ihn hoch, damit sie sich ihn ansehen konnten.
    Knud Erik starrte auf das dunkle Gesicht, das faltig und runzlig war wie eine Walnuss.
    «Was ist das?»
    Er klang keineswegs erschrocken.
    «Das ist ein Menschenkopf. Er starb vor vielen Jahren.»
    «Wird man so klein, wenn man tot ist?»
    Albert lachte und erklärte ihm, wie Schrumpfköpfe gemacht werden.
    «Wie ist er gestorben?»
    «Er starb am Strand von Hawaii. Er kämpfte um sein Leben, aber es waren zu viele Eingeborene für ihn. Schließlich unterlag er.»
    «Und dann haben die ihn zu einem Schrumpfkopf gemacht?» Albert nickte.
    Knud Erik betrachte James Cook eine Weile.
    «Darf ich ihn haben?», fragte er.
    «Nein, er soll nun auf den Grund des Meeres.»
    «Und er kommt nie wieder herauf?»
    «Nein. Er war der größte Entdeckungsreisende der Welt. Aber nun braucht er Ruhe.»
    «Darf ich ihn mal halten?»
    Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm Knud Erik James Cooks Kopf in die Hände.
    «Du bist am Ende gestorben», sagte er zu dem Schrumpfkopf, «aber zuerst hast du gekämpft.»
    Er strich James Cook über das trockene, ausgeblichene Haar, als wollte er seinen Einsatz loben.
    Sie wickelten ihn wieder in das Tuch und legten ihn zurück in die Kiste.
    «Ich möchte ein paar Worte sagen», erklärte Albert. Dann betete er das Vaterunser, wie er es getan hatte, als Jack Lewis in seinem blutigen Hemd und eingenäht in ein Segel über die Bordwand glitt. Seit damals hatte er nicht mehr gebetet.
    Die Kiste schaukelte einen Moment auf dem Wasser. Dann wurde sie von den Steinen hinuntergezogen. Ein paar Luftblasen stiegen auf, dann verschwand sie in der grünblauen Tiefe.

    Albert dachte an die Worte des Jungen zu dem Schrumpfkopf. Knud Erik hatte seine eigene Moral aus dem wenigen, das Albert erzählt hatte, gezogen. Es war auch eine Art von Lebensweisheit, vielleicht sogar die wesentlichste: «Du bist am Ende gestorben, aber zuerst hast du gekämpft.» Hielt er daran fest, würde es ihm nie ganz schlecht ergehen. Das Leben könnte später immer noch seine eigenen Nuancen hinzufügen.
     
    Als sie an der Prinsebro festmachten, fiel der Junge ins Wasser. Er wollte aus der Gig auf die Brücke springen, verschätzte sich aber mit dem Abstand. Albert griff ins Wasser und zog ihn heraus.
    Knud Erik lachte. «Mach das noch mal!»
    «Jetzt bist du getauft», meinte Albert. «Einmal in der Kirche und einmal im Meer. Nun bist du ein Seemann.»
    «Wäre ich jetzt beinahe ertrunken?», fragte der Junge und versuchte, sich wichtig zu machen.
    «Ja, prahl du nur damit. Aber nicht bei deiner Mutter. Einmal unter Wasser, zweimal, aber niemals dreimal. Denk dran.»
    «Was passiert beim dritten Mal?»
    «Das dritte Mal ist die kürzeste Reise», antwortete der alte Mann.
    «Die Reise, die in den Tod führt. Sie dauert nur zwei Minuten. Geh immer auf die längste Reise, wenn du einmal Seemann wirst. Niemals auf die kürzeste. Denk daran.»
    Der Junge sah ihn an und nickte ernst. Er hatte nichts begriffen, aber das Gefühl, dass Albert etwas Wichtiges gesagt hatte.
    Albert zog ihm die Kleider aus und legte sie zum Trocknen auf die vorderste Ruderbank.
    «Komm», sagte er, «wir rudern noch eine Runde. Damit dir warm wird.»

    «Das kann doch nicht ewig so weitergehen», sagten wir über den Krieg. «Irgendwann muss doch mal Schluss sein.»
    Aber wir wussten nichts und verstanden auch nichts von Politik.

    «Jetzt sind die guten Zeiten bald vorbei», sagten die alten Skipper, die in der Sommersonne auf ihren Bänken am Hafen saßen. Ihre gefurchten Gesichter mit der gegerbten Lederhaut verrieten nichts. Sie verbargen ihre Blicke unter den glänzenden, schwarz lackierten Schirmen ihrer Mützen. Man konnte nicht sagen, ob es Galgenhumor war oder sie wirklich meinten, was sie sagten.
    Auch Albert hatte das Gefühl, dass der Krieg bald vorbei sein musste. Seine rechte Spalte war beinahe ebenso lang wie die linke. Es wurde September. Der Junge war eingeschult worden, doch an den Nachmittagen trafen sie sich wie immer. Sieben Schiffe gingen unter, das letzte, das verschwand, war der Dampfer Erindring. Nun hatte es ein Ende. Albert machte seine letzte Runde bei den Hinterbliebenen. Der Krieg zog sich noch ein paar Monate hin, aber in Marstal war er vorbei.
    Albert setzte sich zu den Kapitänen am Hafen, die in der Septembersonne hockten und ihre

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