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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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war die Farbpalette seines Gemüts. Seemann bedeutete das. Es hätte ebenso gut auch nur Mann heißen können. Es war das Versprechen der Männlichkeit, das einen Jungen aufs Meer zog.
    Warum verliebte sich eine Frau in einen Seemann? Weil ein Seemann verloren war, gebunden an etwas Fernes, auch für ihn selbst Unerreichbares, eigentlich Unbegreifliches? Weil er hinausfuhr? Weil er wieder nach Hause kam?
    In Marstal beantwortete sich die Frage von selbst. Es gab kaum andere, in die man sich verlieben konnte. Für die einfachen Leute stellte sich die Frage nicht, ob ein Sohn zur See gehen sollte oder nicht. Er gehörte vom ersten Tag an dem Meer. Es stellte sich lediglich die Frage nach dem Namen des Schiffs, auf dem er zum ersten Mal anmusterte. Das war die Wahl, die es gab.
    Klara Friis stammte aus Birkholm. Es war eine kleine Insel, an der wir vorbeisegelten, wenn wir im Frühjahr den Hafen verließen und durch die Fahrrinne bei Mørkedybet in See stießen. Albert erinnerte sich an die Frühjahrstage mit weitem Himmel und frischem Wind, wenn das Eis aufgebrochen war und in Marstal hundert Schiffe auf einmal ausliefen. Als ob die ganze Stadt dem Frühling mit gesetzten Segeln entgegenkam, so weiß wie die letzten, rasch tauenden Eisschollen. Er erlebte es, als ob die Sonne und nicht der Wind die Segel bauschte. Es war diese helle, erwachende Wärme, die uns antrieb. Das halbe Inselmeer konnten wir mit unserer Frühjahrsparade füllen. Wir schauten uns von Deck zu Deck an, auf dem Weg in hundert verschiedene Häfen, aber für eine kurze Weile vereint. Es gab ein Gefühl der Gemeinschaft, das anschwoll und schließlich zu einer Art von Glück wurde.
    Auf den kleinen bewohnten Inseln kamen die Bauern zum Strand und winkten uns zu, wenn wir vorbeisegelten. Wie winzige, rasch verschwindende Punkte standen sie im weißen Sand, gebunden an ihre eigenen begrenzten Parzellen, von allen Seiten umgeben vom endlosen Meer, das sie täglich einlud und dem sie sich täglich verweigerten. Sie begnügten sich damit zu winken.
    Hatte Klara Friis so ihren Seemann gefunden? Wollte sie fort und hatte sich dann in jemanden verliebt, der noch weiter fortwollte als sie? Sah
sie in den weißen Segeln ein Versprechen und hatte nicht verstanden, dass die Segel etwas anderes versprachen als das, wovon sie träumte? Die Segel gaben ihr Versprechen den Männern, nicht den Frauen.
     
    Er fragte sie beim Kaffee nach Birkholm. Sie war nicht auf der Insel geboren worden, und es war auch nicht klar, wann ihre Familie dorthin zog. Er erkundigte sich nach ihren Eltern, von denen man ihm erzählt hatte, dass sie gestorben seien. Nur wusste er nicht, wann.
    Sie biss sich auf die Unterlippe.
    «Der Lehrer war ein richtiger Kinderschreck», sagte sie in einem Ton, als fühlte sie sich verpflichtet, irgendetwas über ihre Zeit auf Birkholm zu berichten, als hätte sie einen Ausweg gefunden, damit er sie nicht allzu sehr bedrängte.
    «Immer taten mir die Ohren weh. Er drehte sie allzu gern um.»
    Albert nickte. Er wusste ein bisschen über die schulischen Verhältnisse auf Birkholm, wo man sich den Lehrer mit der Nachbarinsel Hjortø teilte. Vierzehn Tage wurde unterrichtet, dann gab es eine vierzehntägige Pause. Viel Wissen wurde den Kindern nicht vermittelt.
    Sie saß eine Weile da und betrachtete ihre Hände, schien zu grübeln. Dann schaute sie auf, und er erkannte etwas Dunkles in ihrem Blick. Es war nicht diese Trauer wie bisher, sondern etwas anderes, Tieferes, ein Schrecken wie bei einem Tier, das um sein Leben fürchtet, aber den Namen seines Feindes nicht kennt.
    «Waren Sie schon mal auf Birkholm?», wollte sie wissen.
    Er schüttelte den Kopf.
    «Ich bin daran vorbeigesegelt. Viel gibt’s ja nicht zu sehen. Die Insel scheint völlig flach zu sein.»
    «Ja, der höchste Punkt ist zwei Meter hoch.»
    Sie lächelte einen kurzen Augenblick, gleichsam entschuldigend. Dann kehrte das Dunkle in ihren Blick zurück.
    «Da gab es diese Sturmflut», sagte sie.
    Ein Kälteschauer durchfuhr sie.
    «Ich vergesse es nie. Ich war acht Jahre alt damals. Das Wasser stieg und stieg. Die Insel war einfach weg. Wir konnten sie nicht mehr sehen. Nur noch das Meer. Überall nur Meer. Ich versteckte mich auf dem Dachboden. Aber ich traute mich nicht, dort zu bleiben. Es war so dunkel.
Also kletterte ich aufs Dach. Die Wellen schlugen gegen das Haus, die Schaumspritzer flogen bis aufs Dach. Ich wurde so nass. Und ich habe so gefroren.»
    Sie schüttelte sich, als ob

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