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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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die Kälte noch immer in ihr steckte.
    «Und was passierte mit Ihrer Mutter und Ihrem Vater?», fragte er. Sie kauerte sich zusammen, während sie sprach. Ihre Stimme wurde leiser, sie klang verängstigt. Es war ein Kind, ein hilfloses und erschrockenes Kind, das sich ihm anvertraute. Und er sprach zu diesem hilflosen Kind, obwohl er es selbst gar nicht so wahrnahm. Er fragte nicht nach ihren Eltern, er beschwor sie herauf. Irgendjemand müsse doch auf sie aufgepasst haben? Er wollte, dass eine rettende Hand in ihrem Bericht erschien, ein Vater, der sie in seinen starken Armen hielt, eine Mutter, die sie an sich drückte und sie mit ihrem Körper wärmte. Doch sie erzählte, als wäre sie mitten in einer Sturmflut ganz allein auf dem Dach gewesen.
    «War denn niemand sonst auf dem Dach?»
    «Doch, Karla.»
    «Ihre Schwester?»
    Er siezte sie. Alles andere wäre herabsetzend gewesen, Aber in diesem Moment schien er ein Kind zu siezen.
    «Nein, Karla war meine Stoffpuppe.»
    «Ja aber, was war denn mit Ihren Eltern?»
    «Ich saß dort auf dem Dachfirst und hielt mich am Schornstein fest. Und dann wurde es dunkel. Ich konnte nichts mehr sehen. Als hätte man mir einen Kohlensack über den Kopf gezogen. Auf der ganzen Welt gab es nur noch mich und Karla. Der Wind heulte so schrecklich im Schornstein. Die Wellen schlugen gegen das Haus wie an einen Schiffsrumpf. Ich dachte, die Mauern stürzen ein. Und dann muss ich doch geschlafen haben. Es kann nur eine Minute gewesen sein. Als ich aufwachte, war Karla weg. Ich hatte sie wohl losgelassen, dann ist sie vom Dach gefallen. Ich rief und rief. Aber sie kam nicht zurück.»
    Plötzlich lächelte sie.
    «Was für ein Blödsinn. Sie bringen mich dazu, die verrücktesten Sachen zu erzählen. Es muss doch für Sie der reine Humbug sein, sich so etwas anzuhören. Sie sind so viele Jahre auf See gewesen. Sie haben bestimmt viel Schlimmeres erlebt.»

    Er sah sie eindringlich an.
    «Nein, Frau Friis, das habe ich nicht. Ich habe niemals irgendetwas erlebt, das sich mit Ihrer Nacht allein in der Sturmflut vergleichen lässt.»
    Ein Röte überzog ihre Wangen. Er hatte das Grauen in ihrem Blick gesehen. In diesem Moment wurde ein Band zwischen ihnen geknüpft, das er seither nicht mehr lösen konnte. Sie hatte ihm etwas sehr Kostbares geschenkt. Sie hatte ihm ein Geheimnis verraten, möglicherweise den Kern ihres Wesens. Er wusste noch immer sehr wenig über sie, aber er hatte den Schrecken gesehen. Das reichte ihm. Es verpflichtete.
    «Karla», sagte er nachdenklich, als würde er ein lautes Selbstgespräch führen. «Das ist ja beinahe derselbe Name. Als wäre sie Ihre Zwillingsschwester gewesen.»
    «Ja», sagte sie nur. «Beinahe wie Klara.»
    Sie warf ihm einen dankbaren Blick zu. Sie wusste jetzt, dass er sie in Ruhe lassen und nicht weiterbohren würde. Nun kannte er Karla und Klara, mehr brauchte er nicht zu wissen. Es gab nichts, was sie noch beweisen, nichts, was sie erklären oder beantworten musste. Unter seinem Blick veränderte sie sich in etwas, das sie nie zuvor gewesen war: ein unbeschriebenes Blatt. Er schenkte ihr einen neuen Anfang.
    Er fragte nie wieder nach ihren Eltern.

    Es wurde Sommer, und der Krieg ging weiter. Albert träumte jetzt seltener, und die Träume besaßen nicht mehr diese Wirkung wie früher. Er hatte Knud Erik.
    «Hattest du einen Traum?», wollte der Junge wissen, wenn sie sich trafen.
    «Heute Nacht nicht», antwortete er.
    «Heute Nacht nicht», wiederholte der Junge enttäuscht. «Du musst aber bald mal wieder träumen.»
    Knud Eriks Träume waren verwirrt und sonderbar, wie Träume nun einmal sind. Aber er erzählte sie stets mit dem gleichen munteren Erstaunen in der Stimme.

    Ein Traum war anders. Er träumte, dass er ertrank.
    «Ich hab nach meinem Vater gerufen. Aber er kam nicht.»
    Sein Blick wurde leer. Einen Moment saß er so da, wie Albert ihn beim ersten Mal gesehen hatte, mit hochgezogenen Schultern und hängendem Kopf.
    «Und dann bin ich ertrunken», sagte er tonlos.
    Sie saßen sich im Ruderboot gegenüber. Albert nahm den Kopf des Jungen zwischen seine Hände und sah ihm in die Augen.
    «Du ertrinkst nicht. Es war nur ein Traum. Wenn du jemals ertrinken solltest, dann rufst du mich. Ich komme sofort.»
    Die hochgezogenen Schultern entspannten sich. Als ginge eine Art von Erleichterung durch den Körper des Jungen. Einen Augenblick später hatte er alles vergessen. Er legte sich in die Ruder, noch nicht wirklich routiniert,

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