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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Tag gelauscht hatten.
    Gegen Abend war ein so gewaltiges Dröhnen zu vernehmen gewesen, dass das Steilufer bei Voderup unter dem Druck einstürzte. Es gab wohl niemanden in Marstal, der in dieser Nacht ein Auge zutat, so quälte man sich mit Spekulationen über den Ausgang der Schlacht. Und als die Nachrichten am späten Freitag eintrafen, dessen Stunden so langsam vergingen, wie sie der Erlöser am Kreuz empfunden haben musste, waren die schlimmsten Befürchtungen bestätigt worden.
    «Ich war außer mir vor Verzweiflung, obwohl ich dem Herrn hätte vertrauen müssen. Die ganze Nacht habe ich gebetet, damit er seine Hand über dich hält, und er hat meine Gebete erhört, obschon es andere gibt, deren Gebete er nicht hörte. Krestens Mutter läuft mit Tränen in den Augen herum und macht sich Vorwürfe, dass sie ihn nicht zurückgehalten hat. Ich habe ihr gesagt, Kresten hätte seinen eigenen Tod vorausgesagt, und niemand könne seinem Schicksal entgehen, aber sie sagt, Kresten sei übergeschnappt, und es wäre die Pflicht einer Mutter, ihren Sohn vor seiner eigenen Unvernunft zu beschützen, und dann weint sie wieder.»

     
    Lille Clausen las tonlos. Die Anstrengung, die Buchstaben zu deuten, erforderte seine gesamte Aufmerksamkeit; es war ihm einfach nicht möglich, auch noch den Sinn der Worte zu erfassen, die er vorlas.
    «Was steht da?», fragte er plötzlich.
    Die anderen schauten ihn verblüfft an.
    «Aber du bist es doch, der vorliest», sagte Ejnar.
    Lille Clausen sah ihn hilflos an, außerstande, sein Dilemma zu erklären.
    «Tja, da steht, dass wir verloren haben», sagte Laurids. «Aber das müsste sie uns wahrlich nicht erzählen, verdammt. Und dann steht da, dass Krestens Mutter vor Kummer schier verrückt geworden ist. Und deine Mutter hat für dich gebetet.»
    «Mutter hat für mich gebetet?»
    Lille Clausen senkte den Blick und fand mit einiger Mühe die Stelle, in der die Mutter ihre schlaflose Nacht beschrieb. Dann las er sie noch einmal, wobei seine Lippen sich lautlos bewegten.
    «Lies jetzt weiter», sagte Ejnar ungeduldig. «Was schreibt sie noch?»
    Marstal hatte ein königlicher Befehl erreicht, dass unverzüglich sämtliche großen Boote und Fahrzeuge der Marine zu überstellen seien. Sie wurden benötigt, um Truppen über den Großen Belt zu transportieren. Doch obwohl sämtliche Seeleute, die nicht auf See waren, sich in der Schulstube versammelt und den Befehl gehört hatten, gab es niemanden, der sich freiwillig meldete. Dann wurden achtzehn Schiffe zwangsausgehoben, als aber der Tag des Auslaufens kam, waren die Schiffe nirgends zu finden. Von der Kanzel hatte Pastor Zachariassen die Marstaler für ihren Mangel an Opferbereitschaft gescholten, und nun wurde darüber gesprochen, ob die Stadt nicht einen neuen Pastor brauche.
    Alles war durcheinandergeraten, es herrschten Krieg und schlimme Zeiten, aber wenn der Herrgott nur seine Hand über Lille Clausen und die übrigen Marstaller hielt, würde es wohl eines Tages ein Ende haben mit dem Elend. Dann würden die Zeiten wieder werden, wie sie einmal waren. Der Brief der Mutter von Lille Clausen endete damit, dass sie ihrem Sohn in der deutschen Gefangenschaft ihre innigsten Gebete und liebevollsten Gedanken schickte, indem sie die Hoffnung ausdrückte, dass er genügend zu essen bekäme und seine Kleider reinlich hielte.
    «Mangelnde Opferbereitschaft!», schnaubte Laurids, als Lille Clausen
seine Lesung zu Ende gebracht hatte. «Solch ein Pastorenschwengel! Sieben sind tot, und der Rest sitzt in Gefangenschaft. Das Leben geben wir gern, aber das ist ihm nicht genug, diesem Satan. Jetzt will er auch noch unsere Schiffe. Aber die kriegt er nicht. Niemals!»
    Die anderen nickten zustimmend.
     
    Wir begannen jeden Tag mit warmem Bier. An einem Tag gab es dünne Dörrpflaumensuppe, am nächsten Erbsen und Fleisch. Es war ein Ritual, nach dem sich unsere Mägen richten mussten. Doch wir hatten unter unseren geizigen Skippern auf See Schlimmeres erlebt und beklagten uns im Grunde nur aus Prinzip. Unsere Messer hatte man uns abgenommen, so dass uns nichts anderes übrig blieb, als das Brot in Stücke zu brechen oder zu reißen und wie die Pferde daran zu knabbern. Eine Stunde am Vormittag und eine Stunde am Nachmittag durften wir auf dem Kirchhof spazieren gehen und Tabak rauchen. Um uns herum standen die Schildwachen mit geladenen Gewehren. Wir konnten die Blicke von den Grabsteinen zu den Bajonetten und wieder zurück schweifen lassen und

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