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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Aber spekulieren nutzte nichts. Es half auch nichts, ein Gebet zu sprechen. Ein Gebet konnte höchstens die innere Unruhe dämpfen. Knud Erik glaubte nicht, dass ein Gebet irgendeinen Einfluss darauf hatte, ob das Schiff
einen Sturm sicher überstand. Er verstand gut, warum Vilhjelm, als er allein an Bord der Ane Marie laut im «Andachtsbuch für Seeleute» gelesen hatte. Es war sein inneres, nicht sein äußeres Stottern, das er hatte kurieren wollen, dieses Stottern der Seele, das seinen Überlebenswillen bedrohte. Aber Knud Erik hatte nicht Vilhjelms Gabe, Gottes Wort in sich wirken zu lassen.
    «Welche Windstärke haben wir?», fragte er noch einmal.
    «Orkan», antwortete Dreymann.
     
    Zehn Tage später erreichten sie den Hafen von Newcastle. Bager war wieder aus seiner Kajüte aufgetaucht, mürrisch und verschlossen. Es sprach eine Angst aus seinem Blick, die nichts mit dem Orkan zu tun hatte.
    Zusammen mit Dreymann verschaffte er sich einen Überblick über die Schäden am Schiff. Das Beiboot hatten sie verloren. Zwei Wassertonnen waren über Bord gegangen. Die Kajütentür war zerborsten, der Mastkoker des Besanmasts gesplittert, die Schonergaffel gebrochen, das Segel in Fetzen, das Schanzkleid einhundertneunzig Fuß lang eingeschlagen und das Namensschild achtern an der Steuerbordseite zerbrochen. Das Gleiche galt für das Laternenbrett an steuerbord.
    Die Schäden mussten repariert werden. Aber nicht nur deshalb hatten sie Newcastle angelaufen. Bagers Tochter Kristina wurde an Bord erwartet. Sie sollte mit nach Setubal segeln. Sie sollte in den Süden, ins warme, sonnige Portugal.
    Knud Erik nahm seinen Füllfederhalter zur Hand und schrieb einen Brief an seine Mutter. Er bat sie, alle zu grüßen, und beschrieb dann das gute Wetter, das sie den ganzen Weg über den Atlantik gehabt hatten.
    Es gab keinen Grund, seine Mutter zu ängstigen.
    Außerdem schrieb er, dass er sich auf die Reise nach Portugal freue.
     
    Später räumte er ein, dass er in Newcastle von Bord gegangen wäre, hätte er gewusst, was ihn erwartete.

    Herman hatte die Geschichte schon früher zum Besten gegeben und damit immer Erfolg gehabt. Nun hatte er sie Fräulein Kristina erzählt und das genaue Gegenteil bewirkt. Irgendetwas erschreckte sie, was eigentlich auch die Absicht war. Aber irgendetwas hatte sie so erschreckt, dass sie aufstand, ihm den Rücken zukehrte und in ihre Kajüte ging. Mit diesem kleinen Schwung der Hüfte. Teufel noch mal, wie sie ihn verwirrte!
    Frauen sollte man nie das geben, worum sie bitten. Am liebsten wollen sie doch weinend vor einer verschlossenen Tür stehen und betteln. Du sollst nicht freundlich zu ihnen sein, obwohl du es vielleicht möchtest. Das macht es so verdammt schwer. Du sollst sie ein wenig erschrecken. Nicht zu viel und nicht zu wenig. Zu viel, und schon geraten sie in Panik – dann bekommst du nicht, was du willst. Zu wenig, und sie putzen ihre niedlichen kleinen Füße an dir ab. Es erfordert Erfahrung, die richtige Dosis zu finden. Man musste sich vortasten.
    Frauen mögen einen Mann, der sie zum Lachen bringt. Aber sie lieben einen Mann, der sie zum Weinen bringt. Sie respektieren nur das, was sie nicht verstehen. Und um Respekt ging es. Herman hatte genug von der Welt gesehen, um zu wissen, dass nicht die Liebe das Leben eines Mannes erträglich machte. Es war der Respekt, und Respekt hatte immer auch ein wenig mit Angst zu tun.
     
    Knud Erik und Vilhjelm hatten auf dem Lukenrand gesessen und gehört, wie Herman die Geschichte von Ravn, dem Automechaniker, erzählte, der während des Krieges auf einem deutschen U-Boot gefahren war und dänische Schiffe versenkt hatte, bis er eines Abends in einem Torweg in Nyborg bekam, was er verdiente.
    Fräulein Kristina hatte interessiert zugehört, bis er an die Stelle mit der Bestrafung im Torweg gekommen war. Da stand sie auf und ging ohne ein Wort.
    Hinterher hatte Herman angefangen, Knud Erik und Vilhjelm über die schwierige und im Grunde unbegreifliche Natur der Frauen zu belehren. Sie hatten über seine Bemerkungen gelacht, aber die ganze Zeit diesen wachsamen Ausdruck in den Augen gehabt, wenn er in der Nähe war.
    Als Herman an Bord auftauchte, hatte er sie mit einem prüfenden
Blick angesehen, als suchte er etwas in seiner Erinnerung. Sie hatten beide weggesehen. Er hatte es auf sich beruhen lassen.
    «Da kommt der Möwenmörder», hatte Vilhjelm gesagt, als er Herman auf die Kristina kommen sah.
     
    In Newcastle war alles

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