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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Jungen erst mal ein paar Kekse geben, Kapitän.»
    Bager holte die Dose heraus und reichte Vilhjelm ein paar Kekse. Er kaute mit starren Kiefern, als müsste er die Bewegung erst wieder lernen.
    Alle drei beobachteten sie ihn, als hätten sie noch nie jemanden essen sehen.
    «Was hast du gegessen?», wollte Knud Erik wissen.
    Vilhjelm hatte von Schiffszwieback gelebt, bis er vor einigen Tagen ausgegangen war. Eine Sturzsee hatte das Deck leer gefegt, dabei waren die Kombüse und der Proviant verloren gegangen. Der Küchenjunge war zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Während des Sturms hatte sich das Rettungsboot losgerissen, war übers Deck geschleudert und hatte ihn am Schanzkleid zerschmettert. Was aus den Matrosen geworden war, wusste er nicht. Vilhjelm vermutete, dass sie über Bord gespült worden waren. Im Übrigen hatte er keinerlei Zeitbegriff und keine Vorstellung davon, wie lange die Ane Marie schon im Eis festsaß.

    Er sprach mit sehr leiser Stimme und langen Pausen zwischen den Sätzen. Es klang überhaupt nicht nach Vilhjelm.
    «Der Schiffszwieback war furchtbar», sagte er. «Total gefroren, ich musste ihn lange im Mund behalten, um ihn aufzutauen. Ich hatte solche Angst, dass die Würmer anfangen würden, mir im Mund herumzukriechen, wenn ihnen wieder warm geworden war. Aber sie waren vor Kälte gestorben. Also habe ich sie mitgegessen.»
    «Du kannst dich bei den Würmern für dein Überleben bedanken», sagte Dreymann nur.
    Knud Erik starrte Vilhjelm an. Er wusste jetzt, warum der ausgezehrte Junge in der Koje des Kapitäns nicht so klang wie sein Freund aus den Kindertagen in Marstal.
    «Du stotterst nicht mehr!», entfuhr es ihm.
    «Nicht mehr?»
    Rikard und Algot waren dazugekommen. Sie standen um Vilhjelm herum und starrten ihn an, als wäre er das Merkwürdigste, das sie je gesehen hatten. Hier lag ein Junge, der nicht nur einen Keks essen, sondern auch einwandfrei sprechen konnte.
    «Jetzt habe ich auch so was noch erlebt», sagte Dreymann. «Wenn man nur lange genug die Klappe hält, hört man also auf zu stottern.»
    «Ich habe den Mund nicht gehalten», widersprach Vilhjelm mit seiner neuen Stimme.
    «Und mit wem hast du geredet, wenn ich fragen darf?»
    «Ich habe laut im ›Andachtsbuch für Seeleute‹ des Kapitäns gelesen. Jeden Tag viele Stunden. Ich bin an Deck auf und ab gegangen. Die anderen waren ja tot. Es war so still.»
    «Helmer!», brüllte Bager. «Wo ist der verdammte Kerl? Wir müssen den Rinderbraten aufsetzen.»
    Sie wandten sich wieder Vilhjelm zu.
    Sein Kopf lag auf der Seite, und er hatte die Augen geschlossen. Er war wieder eingeschlafen.
     
    Rikard und Algot holten den Steuermann und den Kapitän der Ane Marie. Sie transportierten sie auf Verschalbrettern übers Eis und bahrten sie an Deck auf. Dreymann wickelte die Leichen in ein Segel. Sie lagen auf dem Rücken, die Nasen nach oben, und warteten auf das Aufbrechen
des Eises, damit sie im Meer bestattet werden konnten. Kapitän Hansen war einmal ziemlich dick gewesen. Unter dem Segeltuch war noch immer eine Wölbung zu erkennen, Kälte und Hunger hatten seinen Körper nicht ganz auszehren können. Es waren wohl eher das Alter und der Kräfteverfall, die ihn hatten aufgeben lassen. Hansen war Ende fünfzig gewesen, viel zu alt für den Nordatlantik.
    Der Steuermann, der siebenundzwanzigjährige Peter Eriksen, benötigte neben seinem Kapitän nicht viel Platz. Daheim in Marstal hinterließ er eine Frau und zwei kleine Mädchen. Noch gab es für sie nur die Ungewissheit. Aber wieso hatte es ihn erwischt, während Vilhjelm es schaffte? Der Steuermann der Ane Marie lag an Deck wie ein großes Fragezeichen, auf dessen Frage es keine Antwort gab. Knud Erik betrachtete die Konturen des Gesichts, die sich schwach unter dem Segeltuch abzeichneten, und dachte an seinen Vater.
    Bager stand ebenfalls oft bei den Toten und grübelte. Er hatte Kapitän Hansen gut gekannt und stellte sich wohl ähnliche Fragen. Die beiden Schiffe waren im Abstand von einer Woche in Island ausgelaufen. Ebenso gut hätte er dort liegen können. Er hielt das Andachtsbuch in der Hand. Hin und wieder las er darin. Vilhjelm hatte es ihm geschenkt, und nun stand Bager da und musste sich die Sakramente für die Seebestattung ins Gedächtnis rufen.
    Vilhjelm hatte sich so weit erholt, dass er aufstehen und an Deck gehen konnte. Er bat darum, ein bisschen in der Kombüse mithelfen zu dürfen. Proviant gab es vorläufig genug, und wenn die wiedervereinten

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