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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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herunterzuleiern.
    «Der Glaube an unseren Herrn Jesum Christum soll unser Steuer sein, und die Hoffnung des ewigen Lebens soll die Segel schwellen, bis wir dereinst landen im Hafen der ewigen Heimat, der seligen Ruh.»
    Helmer trat vor. In der Hand hielt er eine kleine Schaufel mit Asche
aus dem Ofen der Kombüse. Sie musste für die Erde herhalten, die auf die eingewickelten Leichen geworfen werden sollte, bevor sie dem Meer übergeben wurden.
    «Von Erde bist du gekommen», sagte Vilhjelm mit seiner neuen Stimme, an die sich Knud Erik noch immer nicht gewöhnt hatte.
    Helmer streute Asche über die Toten. Der Regen war jetzt stärker geworden. Die Asche löste sich auf und breitete sich in großen Flecken auf dem grauen Segeltuch aus.
    «Zu Erde sollst du wieder werden.»
    Noch eine Schaufel voll. Die Asche landete diesmal an einer anderen Stelle, und das Segeltuch wurde noch dreckiger.
    «Jesus Christus unser Erlöser wird dich auferwecken am Jüngsten Tage.»
    Rikard und Algot traten an die Verschalbretter und hoben sie nacheinander an. Das verschnürte Segeltuchbündel, das die Überreste von Kapitän Hansen enthielt, fiel senkrecht ins Wasser und verschwand mit einem Plumpsen, das von dem fallenden Regen gedämpft wurde. Dann folgte Peter Eriksen.
     
    Das Meer wirkte schwarz unter den Sturmwolken, die sich allmählich zusammenzogen. Um sie herum leuchtete das Eis gelblich. Dann zerbrach es in unzählige Schollen, die sich senkrecht aufbauten und gegeneinanderschlugen, als hätte das Meer endlich die Geduld mit dieser Last, die es zu tragen gezwungen war, verloren und schüttelte nun missmutig seinen gewaltigen Rücken. Weit entfernt holte die Ane Marie in einer langsamen Bewegung über und legte sich auf die Seite. Das Eis hatte den havarierten Rumpf an der Wasseroberfläche gehalten. Nun entrang das Meer die Ane Marie der schmelzenden Umarmung des Eises und holte sich das Schiff zurück, um nach der erzwungenen Pause sein Zerstörungswerk zu vollenden.
    Dreymann schickte sie sofort in die Masten. Die Nimbuswolken sahen aus wie große Granitfäuste, die sich zum Schlag ballten. Die Erlösung vom Eis war gekommen, aber sie bedeutete eine weitere Bedrohung ihres Lebens. Sämtliche Segel wurden geborgen, bis sie nur noch unter der Stagfock und einem dicht gerefften Schonersegel liefen. Eine Hagelbö ging über sie hinweg, das Meer fing an zu kochen. Die Wellen
bauten sich an allen Seiten auf. Im Schaum der sich brechenden Wellenkämme flogen Eisschollen und krachten mit einem Klirren und Splittern gegen alles aufrecht Stehende, wenn die Wogen das Deck überspülten. Es klang, als würde der heulende Teufelschor in der Takelage von dumpfen, unregelmäßigen Trommelschlägen begleitet.
    Jedes Mal, wenn sie das Deck überqueren mussten, zählten sie. Nach drei großen Seen kam fast immer eine weniger kräftige, dann arbeiteten sie sich über das überschwemmte Deck, um zum Mannschaftslogis zu kommen.
    Bager lag noch immer in seiner Kajüte. Dreymann übernahm die erste Wache zusammen mit Knud Erik. Rikard und Algot wurden nach vorn geschickt, um ein wenig zu schlafen. In der Kombüse klammerte Helmer sich fest wie ein Affe an einem umstürzenden Baum. Sein Talent, Kaffee zu kochen, auch wenn das Schiff auf dem Kopf stand, hatte er bereits bewiesen. Dreymann hatte Vilhjelm in seine eigene Kajüte geschickt.
    «Welche Windstärke haben wir?», fragte Knud Erik.
    Er krallte sich neben Dreymann, der auf dem stark krängenden Deck souverän die Balance hielt, ans Ruder.
    Mal hob sich das Heck auf einem Berg aus Wasser, während der Bug tief in die schäumende See tauchte. Dann stieg der Bug, bis das ganze Schiff auf einen fernen Punkt oben am Himmel zu zielen schien. Es war, als verlangte das Meer, das sie so oft herausgefordert hatten, nun seine Revanche.
    Knud Erik hatte inzwischen gelernt, dass Seemannschaft bei einem Sturm auf dem Nordatlantik eine wesentliche Voraussetzung war, aber bei Weitem nicht ausreichte. Niemand konnte sich gegen eine Sturzsee wappnen, die das Deck leer fegte und die Masten mit sich riss. Entscheidend war das Glück. Einige nannten es Vorsehung, andere den Herrgott, doch wenn es um den Nordatlantik ging, hatte der Herrgott mit dem Glück gemeinsam, dass sein Eingreifen immer zufällig war. Peter Eriksen und Kapitän Hansen, deren Leichen sie gerade im Meer versenkt hatten, waren bestimmt nicht besser oder schlechter gewesen als andere Menschen, die durch die verheerendsten Stürme segelten.

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