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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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hörte.
    Sogar Herman erschien, wenn Ivar das Radio aufbaute. Ivar sah auf und lächelte ihn an.
    «Ah, auch der Steuermann kommt», sagte er.
    Herman drehte sich auf dem Absatz um und ging.
    Sie lachten, wenn sie sicher waren, dass er außer Hörweite war.
     
    Knud Erik und Vilhjelm nannten Herman immer nur den «Möwenmörder», obwohl Vilhjelm längst über den vollen Umfang von Hermans Verbrechen informiert war. Eines Tages, als Ivar ihnen zuhörte, fragte er sie nach dem merkwürdigen Namen. Sofort taten sie so, als handelte es sich lediglich um einen Scherz. Es sei einfach ein Spitzname, der Steuermann sehe doch so aus, als könne er auf die Idee kommen, einer Möwe mit bloßen Händen den Hals umzudrehen.
    Ivar zuckte die Achseln. Er spürte, dass etwas an dieser Erklärung nicht stimmte, aber er fragte nicht weiter nach.
    Später bereuten sie, ihm nicht die Wahrheit gesagt zu haben. Sie wussten ja, was Herman getan hatte. Sie hatten den Kopf seines Opfers in den Händen gehalten und benutzten diesen Spitznamen nur, um die Angst zu bekämpfen, die sie in seiner Nähe immer spürten.
    Daher suchten sie Ivars Gesellschaft. Ihnen war klar, dass sie einen Beschützer brauchten.
     
    Ivar war noch nicht lange an Bord, als er seinem Ärger über die Verpflegung Luft machte. Vor allem das Abendessen fand er unzureichend. Zweimal die Woche, jeden Mittwoch und Sonnabend, wurden ein Käse,
eine Dauerwurst, eine Dose Leberpastete und eine Büchse Sardinen ausgegeben. Davon sollten vier Männer leben. Das Ergebnis war demnach immer das gleiche. Den größten Teil der Ration aßen sie gleich am ersten Abend auf, und den Rest der Woche mussten sie sich dann von Schwarzbrot ernähren.
    «Es ist doch nicht meine Schuld», sagte Helmer und breitete hilflos die Arme aus.
    Ivar ging zum Kapitän und beklagte sich im Namen der Mannschaft, dass die Portionen zu klein seien. Mit der Mannschaft meinte er die drei Jungen, mit denen er das Logis teilte.
    Fräulein Kristina saß in der Kajüte, als Ivar erschien. Sie war groß gewachsen und schlank, mit einer langen Mähne kastanienbraunen Haars und einem freimütigen, energischen Wesen, das die meisten Mädchen aus Marstal auszeichnete. Es lag an der Erziehung. Sie wussten, dass sie eines Tages zu Hause geradezu absolutistisch herrschen würden. Fräulein Kristina hatte Grübchen und einen Schönheitsfleck auf dem rechten Nasenflügel, der sie immer so aussehen ließ, als hätte sie sich gerade erst hübsch gemacht.
    Bager sagte zunächst nichts. Aus den Augenwinkeln sah er seine Tochter an, als würde er sie gern nach ihrer Meinung fragen. Er befand sich eindeutig in einem Dilemma zwischen seiner Knauserigkeit und dem Wunsch, auf seine Tochter einen guten Eindruck zu machen.
    «So ein Dampfschiffmatrose», knurrte Herman.
    Er war ebenfalls anwesend und betrachtete sich als Sprachrohr des Kapitäns.
    «Ich kenne das Seerecht», sagte Ivar ruhig, «wir bekommen nicht das Essen, auf das wir Anspruch haben. Ich verlange, künftig beim Abwiegen der Rationen dabei zu sein.»
    Er wandte sich lächelnd an Fräulein Kristina.
    «Wahrscheinlich finden Sie es eigenartig, dass wir uns so für ein paar Gramm Essen einsetzen, Fräulein?»
    Sie schüttelte den Kopf und erwiderte sein Lächeln, unbeeindruckt von der gespannten Atmosphäre in der Kajüte.
    Herman sah mit lauerndem Blick von einem zum anderen. Man konnte ihm seine Gedanken ansehen. Ivar versuchte, den Kapitän mit Hilfe seiner Tochter zu beeinflussen.

    «Sie dürfen nicht glauben, dass ich Angst vor der Arbeit hätte, mein Fräulein. Wir arbeiten hart, aber die meisten von uns sind ja noch nicht einmal zwanzig; sehen Sie sich bloß den Koch und die beiden Jungmänner an, die sind erst fünfzehn, nicht einmal ordentlich ausgewachsen. Und dann arbeiten wir den ganzen Tag an der frischen Luft. Sie haben bestimmt schon selbst festgestellt, dass Seeluft Appetit macht.»
    Herman räusperte sich drohend. Er war von Ivars Eloquenz wie gelähmt und versuchte, Zeit zu gewinnen.
    Ivar würdigte ihn keines Blicks. Er lächelte noch immer Fräulein Kristina an, die sein Lächeln erwiderte, als gäbe es tatsächlich eine heimliche Verbindung zwischen ihnen.
    Bager schien nichts zu bemerken. Stattdessen begann er zu reden, und was er sagte, war so ungewöhnlich, dass jeder sich ausrechnen konnte, dass irgendetwas an Bord der Kristina schiefgehen musste.
    «Fünf Brote und zwei Fische», sagte er mit einer bemüht energischen Stimme, die aber

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