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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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dennoch so merkwürdig abwesend klang, als befände er sich in Gedanken ganz woanders.
    «Entschuldigung?» Ivar versuchte, höflich zu sein. «Ich habe Sie gewiss nicht richtig verstanden.»
    Bager wurde lauter. «Ich sagte fünf Brote und zwei Fische. Das war alles, was unser Herr Jesus Christus benötigte, um fünftausend Menschen zu speisen. Und ihr habt nicht genug an einem Käse, einer Wurst, einer Leberpastete und einer Dose Sardinen, obwohl ihr doch nur zu viert seid?»
    «Nun, es geht hier nicht um eine biblische Geschichte. Wir sind an Bord der Kristina aus Marstal, und das Seerecht sagt …»
    «Verleugnest du den Herrn, deinen Gott?», fragte Bager in scharfem Ton und sah Ivar anklagend an. «Wie ist es möglich, dass du, nachdem Gott dich geboren, dich gekleidet und so viele Tage versorgt hat, nun daran zweifelst, ob Er nun mehr kann oder will?»
    Sogar Ivar, der nicht auf den Mund gefallen war, wusste dieser Suada nichts entgegenzusetzen, die für den sonst so wortkargen Kapitän äußerst ungewöhnlich war.
    Fragend sah er hinüber zu Kristina. Sie breitete ratlos die Arme aus. Man konnte bei einem Kapitän aus Marstal so manches erleben. Er konnte unbarmherzig hart vorgehen, unzumutbare Anforderungen stellen
und bisweilen ungerecht sein. Vor allem aber konnte er geizig sein. Genügsamkeit war die Voraussetzung seines Überlebens. Aber es hatte noch nie jemand gehört, dass er seine Zumutungen mit religiösem Geschwätz begründete, und schon gar nicht mit so nebulösen Aussagen wie diesen.
    Herman musste sich beherrschen, um nicht laut loszulachen. Die Geschichte versprach wirklich komisch zu werden.
    «Ich spreche vom Seerecht», sagte Ivar mit fester Stimme.
    Fräulein Kristina beugte sich hinüber zu Bager und legte die Hand auf die ihres Vaters.
    «Sei vernünftig, Vater. Du büßt doch nicht wirklich etwas ein, nur weil die Besatzung etwas mehr zu essen bekommt.»
    Bager griff sich an die Brust. Es hatte den Anschein, als durchlitte er eine innere Krise.
    «Wie du willst», sagte er mit matter Stimme. Er sank in einem Stuhl zusammen und hielt sich noch immer die Brust.
    «Vater, geht es dir nicht gut?», erkundigte sich Fräulein Kristina besorgt.
     
    Im Mannschaftslogis erstattete Ivar Bericht. Er sah Knud Erik an.
    «Du bist derjenige, der am längsten mit ihm unterwegs ist. Ist er immer so?»
    «Geizig ja», erwiderte Knud Erik, «aber dass er redet wie Pastor Abildgaard?»
    Er schüttelte den Kopf.
    «Wiederhol noch mal, was er gesagt hat», bat Vilhjelm.
    «Das war diese Geschichte aus der Bibel, mit den fünf Broten und zwei Fischen.»
    Ivar versuchte sich zu erinnern.
    «Er fragte, wie es möglich sei, dass wir am Herrn zweifeln, der uns gekleidet und versorgt hat.»
    «Das stammt aus dem ›Andachtsbuch für Seeleute‹«, erklärte Vilhjelm. «Siebter Sonntag nach Trinitatis. Eine Predigt für Arme und Reiche. Seemannspastor Jonas Dahl aus Bergen. Bager hat sie auswendig gelernt. Es muss ihm wirklich schlecht gehen.»

     
    Es kam vor, dass Fräulein Kristina die ganze Mannschaft zu Pfannkuchen einlud oder an Deck mit der Kaffeekanne herumging. Helmer in der Kombüse strahlte. Sie tauchte häufig dort auf und half ihm bei der Zubereitung des Essens. Es war so eng, dass sie dicht nebeneinander stehen mussten. Das Rascheln des Kleiderstoffs und die Nähe einer Frau verwirrten ihn. Sie lobte ihn für sein Können, und er gab sich besonders viel Mühe. So wie alle. Es war gut, eine Frau an Bord zu haben.
    Häufig leistete Fräulein Kristina dem Rudergänger Gesellschaft und unterhielt sich mit ihm; der hatte dann ein Auge auf die Takelage und das andere auf sie gerichtet.
    Eines Abends, als sie sich der portugiesischen Küste näherten, spazierte Fräulein Kristina im Mondschein mit Ivar an Deck.
    Herman stand an der Reling und versuchte, von ihrem Gespräch etwas aufzuschnappen, doch es war zu gedämpft, um etwas zu verstehen. Sie hatte ihm den Rücken zugedreht, als er ihr die Geschichte von Ravn in Nyborg erzählte. Aber reserviert verhielt sie sich eigentlich nicht. Nur ihm gegenüber wahrte sie Abstand.
    Nach der Auseinandersetzung um die Verpflegung war ihm klar, dass seine Chancen schlechter standen als je zuvor.
    Er empfand Fräulein Kristinas Nähe, als hätte sich etwas Giftiges und gleichzeitig unendlich Süßes in sein Blut gemischt. In seinem Inneren trugen Willenlosigkeit und eine ungeheure Anspannung einen verbissenen Wettkampf aus. Herman fühlte sich gleichzeitig schwach

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