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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Freunde allein sein wollten, lösten sie Helmer ab und schickten ihn ins Mannschaftslogis. Er ging nur widerwillig, denn abgesehen von der Kajüte des Kapitäns war die Kombüse der wärmste Raum des Schiffs. Außerdem vermutete er, dass die beiden sich ihre Geheimnisse anvertrauen würden, sobald er aus der Tür war; er hatte den Appetit des Jüngeren auf die Erlebnisse der Lebenserfahreneren.
    Doch sie sprachen nicht sonderlich viel über die Tage, die Vilhjelm allein auf der Ane Marie zugebracht hatte. Wenn Knud Erik danach fragte, verstummte Vilhjelm und sah zu Boden, und Knud Erik fürchtete, dass er wieder anfangen könnte zu stottern.
    Vilhjelm, der gern über etwas anderes sprechen wollte, spürte, dass Knud Erik irgendetwas bedrückte, und er brachte ihn dazu, von seiner
Begegnung mit Miss Sophie zu erzählen. Knud Erik belastete nicht die Zurückweisung, nicht der Hohn in ihrer Stimme in dieser Nacht auf dem Signal Hill, als sie ihn aufforderte, ihr nicht mehr wie ein Hund zu folgen. Doch die Ungewissheit über ihr Schicksal und sein eigener Anteil an ihrem Verschwinden verfolgten ihn weiterhin wie eine nagende, unbestimmte Schuld.
    Vilhjelm durchschaute ihn sofort.
    «Du glaubst, es hat alles etwas mit dir zu tun», sagte er mit seiner neuen, klaren Stimme, als Knud Erik seinen Bericht beendet hatte. «Aber sie ist einfach verrückt. Das ist alles.»
    «Ja, aber …», wandte Knud Erik ein.
    «Ich weiß genau, was du sagen willst. Du kannst dich nicht daran erinnern, was in der Nacht passiert ist, also glaubst du, dass du möglicherweise irgendetwas Schlimmes getan hast. Aber das ist Blödsinn. Sie ist mit einem anderen abgehauen.»
    Es war nicht so, dass Vilhjelm mehr Verstand besaß als Knud Erik, er war einfach nur unbefangener. Vilhjelm hatte sich nicht in Miss Sophie verliebt und konnte die Dinge deshalb von außen betrachten und besser einschätzen, was geschehen war.
    Knud Erik war sichtlich erleichtert.
    Als sie so weit gekommen waren, begann Vilhjelm, ihn näher zu dem Kuss und seiner Wirkung zu befragen.
    «Das habe ich noch nie probiert», sagte er grübelnd, als seine Neugierde endlich befriedigt war.
    «Das kommt schon noch.»
    Nun waren die Rollen vertauscht. Knud Erik fühlte sich plötzlich als der Erfahrenere.
    «Ja, aber ich war kurz davor, es mir entgehen zu lassen.»
    Das war Vilhjelms äußerstes Zugeständnis, dass er sich in Lebensgefahr befunden hatte.
     
    Sie warteten auf das Aufbrechen des Eises. Es herrschte südliche Strömung. Die Erlösung musste kommen und damit das erste offene Wasser, damit sie von ihren toten Passagieren Abschied nehmen konnten. Aus der Takelage begann es zu regnen. Große Eiszapfen lösten sich und krachten aufs Deck. Die Segel waren zu steif gewesen, sie hatten sie nicht
bergen können. Nun strömte die Feuchtigkeit heraus und durchnässte alles an Deck, als hätte die Kristina wie eine Insel ihr eigenes Klima.
    Ein plötzlich aufkommender Wind kündigte das Aufbrechen des Eises an. Dann folgte ein Regenschauer. Sie zogen ihr Ölzeug an.
    Ein großer Riss zog sich nahe des Rumpfes durch das Eis, dann ein weiterer. Es wurde Zeit, die Toten zu bestatten.
    Bager lag in seiner Kajüte und weigerte sich herauszukommen. Er murmelte durch die geschlossene Tür, dass er sich nicht wohlfühle und sie ihn in Ruhe lassen sollten.
    Dreymann ging hinein, um das «Andachtsbuch für Seeleute» zu holen, in dem auf den letzten Seiten die Anweisungen für die «Feierliche Einsenkung einer Leiche ins Meer» standen. Sie brachten die Verschalbretter mit den Toten so auf der Reling an, dass sie wie auf einer Rampe lagen; nun konnten sie über die Bordwand gleiten und im Meer verschwinden. Beklommen standen sie mit den Südwestern in den Händen daneben.
    Dreymann nahm das Buch zur Hand. Es war in Frakturschrift gedruckt. Er kniff die Augen zusammen. Der Regen lief ihm über die Wangen.
    «Teufel auch», murmelte er, «ich bin einfach zu alt. Ich kann die kleinen Buchstaben nicht mehr lesen. Wie wär’s, wenn das einer von euch jungen Leuten machen würde?»
    Er wollte das Andachtsbuch an Rikard oder Algot weitergeben. «Lass mich», sagte Vilhjelm. «Ich kann’s sowieso auswendig.»
    Dreymann sah ihn an.
    «Du willst mir doch nicht erzählen, dass du auf der Ane Marie herumgelaufen bist und dir die Sakramente für Seebestattungen vorgelesen hast?»
    «Doch», sagte Vilhjem, «ich kann das ganze Andachtsbuch auswendig.»
    Ohne Dreymanns Reaktion abzuwarten, begann er sie

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