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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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sehen. Sie war nach der Mutter benannt, die sich ihm entzog, nachdem sie erklärt hatte, dass er in ihren Augen ebenso gut tot sein könne. Hilfsbereitschaft war eine Seite seiner Mutter, die er niemals erlebt hatte.
    Wenn jemand mit ihm darüber sprechen wollte, dass sie ihn verleugnete, wandte Knud Erik den Kopf ab und schwieg.
     
    Kapitän Boye bekam am Morgen des 9. April zwei Telegramme. Eines kam von der Reederei Severinsen in Nakskov, das die Dannevang zurück nach Dänemark oder in den nächsten neutralen Hafen beorderte. Das andere kam von Isaksen.
    Auch dieses Telegramm las Boye seinem ersten Steuermann vor.
    «Isaksen fordert uns auf, einen englischen Hafen anzulaufen», sagte er. «Eigentlich geht ihn das ja nichts an, schließlich ist er nicht der Reeder des Schiffs, aber ich bin einer Meinung mit ihm.»
    «Isaksen ist ein Ehrenmann», sagte Knud Erik.
    Der größte Teil der dänischen Reeder hatte so gehandelt wie Severinsen. Møller, der offenbar gut informiert war, hatte noch in der Nacht vor dem Einmarsch der deutschen Truppen mit seinem Sohn den Schiffen der Reederei telegrafiert und sie angewiesen, einen neutralen Hafen anzulaufen. Auf der Jessica Mærsk war es zu einer Meuterei der Mannschaft gekommen. Sie hatten den Steuermann gefesselt und ins Kartenhaus
gesperrt. Das Schiff hatte Kurs auf Irland genommen, das sich aus dem Krieg heraushielt. Nun zwang die Besatzung den Kapitän, nach Cardiff zu fahren. Schon bald ging das Gerücht um, dass auch die Jessica Mærsk ein Telegramm von Isaksen erhalten hatte. In seinem New Yorker Büro war er offenbar ebenso beschäftigt wie sein alter Arbeitgeber.
    Isaksen hatte sich, wie Boye richtig bemerkte, in etwas eingemischt, das ihn eigentlich nichts anging. Aber so handelte ein Ehrenmann.
    Auf der anderen Seite war es schwierig, sich an Bord der Dannevang als Ehrenmann zu fühlen.
    Auf jeden Fall fühlte man sich wie ein bis auf die Unterhose ausgezogener Ehrenmann.
    Sie konnten in einem Pub in Liverpool, Cardiff oder Newcastle stehen und so viel Guinness hinunterstürzen, wie es zwischen zwei Luftalarmen möglich war. Immer gab es irgendjemanden, der fragte, wenn er ihren Akzent hörte: «Where are you from, sailer?»
    Das war der Augenblick der Nacktheit.
    Sie lernten es rasch. Wenn sie eines nicht sagen sollten, dann die Wahrheit. Sagten sie «Dänemark», wurde die Auskunft mit Schweigen, Kälte oder offener Verachtung beantwortet. «Halbe Deutsche» wurden sie genannt.
    Im Pub «Sally Brown» bei Brewers Wharf war ein Mädchen mit tiefem Ausschnitt und auffallend roten Lippen auf Knud Erik zugekommen. Er hatte sie zu einem Drink eingeladen. Sie hatten sich zugeprostet, sie hatte ihm über den Rand des Glases tief in die Augen gesehen. Er kannte das Spiel und wusste, wie der Abend enden würde. Das war schon in Ordnung. Er brauchte es.
    Dann war die Frage gekommen, und damals hatte er noch keine Erfahrung damit, kannte den Effekt der Wahrheit noch nicht, wenn er antwortete: aus Dänemark.
    « Why aren’t you in Berlin with your best friend Adolf?»
    Knud Erik tobte. Zum Teufel, er war hier, in einer Kneipe, in der die Hälfte der Fenster herausgeflogen waren, in einer ausgebombten Stadt; er setzte für eine geringe Heuer sein Leben aufs Spiel, abgeschnitten von Familie und Freunden. Er hätte in Dänemark gemütlich unter der Bettdecke liegen können. Stattdessen hatte er als tägliche Gesellschaft explosives Teufelszeug in allen erdenklichen Formen, das nur dazu diente,
seine Opferbereitschaft mit einem plötzlichen Ende seines erbärmlichen Lebens zu quittieren.
    Als sie ging, wackelte sie in ihrem engen Rock mit dem Hintern. Er sollte wissen, was er verpasste, nur weil er aus dem falschen Land kam.
    Ihre Reeder, ihre Regierung, alle hatten die dänischen Seeleute aufgefordert, neutrale Häfen anzulaufen, als die Nachricht von der Besetzung Dänemarks kam. Sie hatten das Gegenteil getan, hatten sich darüber hinweggesetzt. Aber es hatte ihnen nichts geholfen. Es gab beim Barkeeper kein Guinness umsonst und bei Damen mit tiefem Ausschnitt und roten Lippen keinen Sympathiefick für einen Halbdeutschen.
    Stattdessen konnten sie sich am Glück anderer erfreuen. Am anderen Ende der Bar stand ein minderjähriger Bursche mit blauen Augen und blonden Locken, die ihm in die Stirn fielen. Dort hatte es kein Ende mit Schulterklopfen und schelmischen Blicken, ausgegebenen Bieren und Einladungen zu einer Gratisfahrt mit der Berg- und Talbahn in irgendeiner

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