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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Kammer, in der eine Matratze mit defekten Federn darauf wartete, sich durch die Nacht zu quietschen.
    Der Junge konnte nicht einmal Englisch, abgesehen von einem einzigen Satz: «I come from Norway!»
    In Norwegen kämpften sie. Der König und die Regierung befanden sich im Exil in London; dreißigtausend Norweger fuhren auf alliierten Kriegsschiffen. Und das Wichtigste überhaupt, sie fuhren unter eigener Flagge. Die norwegische Handelsflotte war an den Staat übergegangen und der König nun ihr offizieller Reeder.
    Skandinavier hatten gute Karten, wohin sie auch kamen. Aber in den Augen der Engländer war ein Skandinavier gleichbedeutend mit einem Norweger. Dänemark war von der Landkarte gestrichen, und wenn ein Seemann den Mund öffnete, um mitzuteilen, dass er aus Dänemark stammte, klang es wie eine beschämende Erinnerung an etwas, das irgendwann einmal existiert hatte. Am 9. April wurde die Besatzung der Dannevang zu einer Mannschaft ohne Vaterland.
    Schweigend tranken sie ihr Guinness.
    Sie waren nackte Männer in der Schusslinie.
     
    Das Ende kam an einem frühen Januarmorgen gegen vier Uhr. Die Dannevang war mit Kohle auf dem Weg von Blyth nach Rochester. Hinterher
wussten sie nicht, ob es sich um eine seismische, eine akustische, eine magnetische Mine oder nur um eine altmodische Seemine gehandelt hatte. Der Vordersteven war aufgerissen. Das Schiff nahm sofort Wasser auf, sank aber nicht auf der Stelle. Sie waren verdunkelt unterwegs gewesen. Als sie in die Boote gingen, befahl Kapitän Boye, die Lichter einzuschalten.
    Sie stellten das Rudern ein, als sie Abschied von der Dannevang nahmen. Eine Flasche Rum ging herum. An Bord wurde selten getrunken. Silvester hatte Kapitän Boye eine lange Diskussion mit seinen Steuermännern geführt, bevor er sich dazu entschloss, jedem der Männer ein Glas Kirschwein auszuschenken. Als er die Rumflasche zurückbekam, war sie noch immer nicht leer. Siebzehn Mann! Er starrte sie voller Anerkennung an.
    Die Dannevang begann zu krängen. Aus dem Maschinenraum waren Explosionen zu hören, als das Wasser die unter Feuer stehenden Kessel erreichte. Kohlestücke flogen durch das weggeplatzte skylight. Der Achtersteven hob sich aus dem Wasser, einen Augenblick lief die Schraube in kreischendem Leerlauf. Dann stand sie still, und überall auf dem Schiff gingen die Lichter aus.
    Knud Erik schloss die Augen. Albert hatte auch von einem sinkenden Dampfer geträumt und ihm diesen Traum erzählt.
    Als er die Augen wieder öffnete, hatte das Meer sich über der Dannevang geschlossen.
    Die Männer hielten ihre wollgefütterten Kappen in der Hand. Niemand sagte ein Wort. Knud Erik fand, der Kapitän hätte ein Gebet sprechen müssen. Oder eine Grabrede halten. Aber so etwas konnte man doch, verflucht, bei einem Schiff nicht machen.
    Der Zahlmeister zündete sich eine Zigarette an, die rot in der Dunkelheit aufglimmte.
    «Jetzt tut eine Zigarette gut.»
    Es war Boye, der das Schweigen brach. Er sah zum Zahlmeister.
    «Hammerslev, hast du die Kartons mitgenommen?»
    Der Zahlmeister stupste den Schiffsjungen an.
    «Die Kippen, Niels.»
    Der Schiffsjunge kroch unter die hintere Ruderbank und hielt triumphierend einen Karton in die Luft. Jeder bekam ein Päckchen. Seekisten
und Seesäcke hatten sie gezwungenermaßen an Bord lassen müssen, dafür gab es im Rettungsboot keinen Platz. Sie besaßen jetzt nur noch das Zeug, das sie am Leib trugen.
    Sie hatten ihr Seefahrtsbuch und den Pass, der bewies, dass sie zu einer Nation gehörten, die es nicht mehr gab, weil der Krieg sie geschluckt hatte.
    Dazu eine Schachtel Zigaretten.
    Es ging. Sie würden es schaffen. Sie waren am Leben, und gleich würden sich ihre Lungen mit Rauch füllen.
    «Die Streichhölzer», sagte Boye, «wo, zum Teufel, sind die Streichhölzer?»
    Er sah den Schiffsjungen vorwurfsvoll an.
    «Ich schmeiß dich über Bord, wenn du die Streichhölzer vergessen hast.»
    Der Schiffsjunge breitete hilflos die Arme aus.
    «Es ging so schnell», sagte er.
    Der Zahlmeister ließ seine Zigarette rund gehen. Bald glühten siebzehn kleine Punkte in der winterlichen Dunkelheit. Bis zum Morgengrauen waren es noch ein paar Stunden.
    «Niels», sagte der Kapitän zu dem Schiffsjungen. «Es ist deine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass mindestens eine Zigarette immer angezündet ist, und wenn du im Schlaf rauchst. Hast du verstanden?»
    Der Schiffsjunge nickte ernst, wobei er paffte, als hinge sein Überleben von dem kleinen glutroten Punkt

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