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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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vor seiner Nase ab.
    Knud Erik sah sich um. Es war eine gute Besatzung gewesen. Er hatte die letzten drei Jahre als erster Steuermann auf der Dannevang verbracht. Es gab sieben Marstaler an Bord, einer stammte aus dem Nachbarort Ommel. Der Rest kam aus Lolland und Falster. Nun würden sie in alle Winde zerstreut werden.
    Ein paar Jahre später sollte er sich an diesen Augenblick erinnern und in Gedanken eine Rechnung aufmachen. Von den siebzehn Männern würden acht tot sein. Der Kapitän, der zweite Steuermann, der Zahlmeister, ein Matrose, zwei Leichtmatrosen, der Jungmann und der erste Maschinist. Fünf von ihnen kamen aus Marstal.
    Kapitän Boyes Schiff wurde von einem amerikanischen Konvoischiff gerammt. Der Jungmann war an Bord eines Munitionsschiffs, das von
einem Torpedo getroffen wurde. Von der Besatzung, die aus neunundvierzig Männern bestand, überlebten drei, doch er war nicht darunter.
    Doch in diesem Augenblick saßen sie nur da und warteten auf den Tagesanbruch. Sie befanden sich in der Nähe der englischen Küste und wussten, dass sie bald jemand entdecken würde.
    Sie dachten nicht an den Tod.
    Sie hatten nur eine Sorge: die rote Glut einer Zigarette nicht ausgehen zu lassen, bevor sie geborgen wurden.

    Die Besatzung der Dannevang verbrachte einige Wochen arbeitslos in Newcastle. Die meiste Zeit hielten sie sich in dem neu eröffneten dänischen Seemannsklub auf, in dem sie ihre Fähigkeiten beim Billard verbesserten. Nicht dass sie sich nach Luftangriffen, Minen und U-Booten sehnten. Ihre Sehnsucht nach Bomben konnten sie durchaus befriedigen, wenn sie in die Docks gingen. Es war nicht ganz so schlimm wie in London, aber beinahe. Doch sie hatten ihre Entscheidung getroffen, und nun kam es ihnen verrückt vor, einen Weltkrieg damit zu verbringen, Billard zu spielen. Außerdem war das Essen an Land fürchterlich. Eipulver, Frühstücksfleisch, graues Brot, das mit einer stinkenden, ölartig aussehenden Substanz bestrichen wurde, die sich «Bovral» nannte; Fleisch war gleichbedeutend mit corned beef. Doch es war nicht Geiz, der den Speiseplan der Engländer diktierte, sondern der Krieg, und entsprechend sahen sie aus. An ihrer geflickten Vorkriegskleidung ließ sich ablesen, wie sehr sie abgenommen hatten. An Bord der Dannevang war die Verpflegung besser gewesen, dort hatte es ab und zu ein richtiges Ei oder eine Scheibe Rindfleisch gegeben.
    «Die Engländer essen genau wie auf den alten Neufundlandschonern», sagte Knud Erik.
    Er war seit der unseligen Reise mit der Kristina nicht mehr nach Neufundland gesegelt. Die Claudia war sein letztes Segelschiff gewesen. Nach dem Steuermannsexamen hatte er auf einem Motorschiff fahren wollen. Er hatte es auf der Birma und der Selandia versucht, die beide der Fernöstlichen Gesellschaft gehörten. Er war jedes Mal abgelehnt
worden und hatte nicht verstanden, warum. Von der Verbindung zwischen seiner Mutter und dem Inhaber der Reederei, dem alten Markussen, wusste er nichts. Dann hatte er sich für die Dampfer entschieden.
    Helge Fabricius, der zweite Ingenieur der Dannevang, lachte. Er war Mitte zwanzig und nicht alt genug, um noch nach Neufundland gesegelt zu sein. Knud Erik mit seinen dreißig Jahren, war nicht einmal zehn Jahre älter, aber sie waren beide auf ihrer Seite der großen Grenze geboren, die das Verschwinden der Segelschiffe gezogen hatte. Nicht einmal eine Generation lag zwischen ihnen, und doch waren sie Kinder verschiedener Welten.
    Hinter dem Billardtisch hing eine schwarze Schiefertafel, auf der man die mit Kreide geschriebenen Worte «Freie Heuern» lesen konnte. Nimbus aus Svendborg stand dort. Nichts anderes. Brauchten sie einen Steuermann, einen Zahlmeister oder einen ersten Maschinisten? Sie gingen zum Konsul Frederik Nielsen, um sich zu erkundigen. Zu ihrer Überraschung bot er ihnen das ganze Schiff an. Die Mannschaft war abgehauen. Sie konnten die Nimbus übernehmen, wenn sie wollten. Knud Erik wurde zum Kapitän ernannt.
    Auch das war Krieg. Er zog nicht nur Grenzen, er bot auch Möglichkeiten.
     
    Sie fuhren hinaus, um sich das Schiff anzusehen. Am Vordersteven stand Nimbus und am Achterspiegel Svendborg. Zumindest sah es so aus, als hätte es einmal dort gestanden. Keines der Worte war lesbar, wenn man nicht seine Phantasie zu Hilfe nahm.
    Helge Fabricius begann zu zählen. Sie schritten am Kai auf und ab und sahen sich das Schiff an, während er seine eintönige Zählerei fortsetzte. Knud Erik musste ihn nicht fragen, was er

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