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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Kesseln liegen. Um sie herum brannten Schiffe, die in Sekundenschnelle in sinkende Wracks verwandelt worden waren. Tote und verbrannte Körper schwammen zwischen den Wrackteilen auf dem Wasser.
     
    Etwas später bekamen sie den Befehl, sich mit der Flut den Fluss hinauftreiben zu lassen. Sie mussten ohne Maschinenkraft fahren.
    Das Einzige, was sie hörten, war das Geräusch der Wellen, die gegen den Rumpf schlugen.
    Es war so leise wie zur Zeit der Segelschiffe.

    Sie waren im Konvoi von Bergen nach England unterwegs gewesen, als über Funk die Mitteilung der Besetzung Dänemarks durch die Deutschen kam. Daniel Boye, der Kapitän, rief sie sofort zu einem Schiffsrat zusammen. Er überließ ihnen die Wahl. Sollten sie weiterhin Kurs auf den englischen Hafen nehmen oder umkehren und einen dänischen oder norwegischen Hafen anlaufen?
    In gewisser Weise hatten sie sich bereits entschieden. Sie fuhren im Konvoi unter dem Schutz englischer Kriegsschiffe. Bedeutete das, dass sie mit Deutschland Krieg führten, ebenso wie die Schiffe, die sie begleiteten?
    Die Antwort kannten sie genau. Die Frachtraten waren hoch. Dies galt auch für die Heuern, dreihundert Prozent Kriegszulage. Mit Überstunden
und diversen anderen Zulagen bedeutete das eine Vervierfachung, manchmal sogar Verfünffachung ihrer Heuer. Sie waren wegen des Geldes unterwegs. Und nun sollten sie für einen Krieg votieren, bei dem sie in die vorderste Linie geraten würden. Das hatte sie der Frieden bereits gelehrt. Allein während des gerade vergangenen Osterfestes hatten neunundsiebzig dänische Seeleute ihr Leben gelassen. Über dreihundert Männer waren seit Kriegsausbruch gestorben, obwohl alle auf Schiffen gefahren waren, die am Rumpf den neutralen Dannebrog als Bemalung trugen. Die Torpedos der U-Boote kannten keinerlei Unterschied. Ein Schiff auf dem Weg in einen feindlichen Hafen war ein Schiff auf dem Weg in einen feindlichen Hafen, egal, welche Motive diejenigen haben mochten, die an Deck arbeiteten.
    Alle in der siebzehn Mann zählenden Besatzung an Bord der Dannevang hatten dafür gestimmt, den Kurs auf England beizubehalten. Es steckte ein Trotz in ihnen, der möglicherweise mit dem Krieg gar nichts zu tun hatte. Sie wollten Seeleute sein, und niemand hatte sie von Deck zu jagen.
    Sie ahnten instinktiv, dass dieser Trotz sie am Leben erhielt. Nicht Patriotismus, nicht Vaterlandsliebe und auch nicht die eine oder andere Ideologie oder irgendein Verständnis dafür, worum es bei diesem Krieg ging. All das gab es, mal mehr, mal weniger ausgeprägt, aber nach ihrer Meinung über den Krieg wurden sie nicht gefragt. Ihnen wurde ein Entschluss abverlangt, der ganz entscheidende Konsequenzen für den Rest ihres Lebens hatte – wie groß diese Konsequenzen waren, konnten sie selbst gar nicht abschätzen. Doch sie wussten mit all ihren Instinkten als Seeleute, dass es hier um Leben oder Tod ging. Ob es sich nun um einen Orkan oder eine Messerschmitt 110 handelte, es war der Eigensinn des Seemanns, wenn er mit einer Übermacht konfrontiert wird, der sie zustimmen ließ.
    Sie stimmten nicht dafür, in den Krieg zu ziehen. Sie setzten nur einen Kampf fort, der schon lange währte. Sie stimmten nicht für England, sondern für den Weg nach England, für das Meer und die Herausforderung, durch die sie sich als Männer fühlten.
     
    Bereits am 10. April liefen sie Methil an und bekamen den Befehl, die Reise sofort nach Tynedock fortzusetzen, wo das Schiff der britischen
Admiralität übergeben wurde. Eine Übergabezeremonie fand nicht statt. Ein Offizier der englischen Flotte hängte einen Anschlag an den Achtermast, auf dem in aller Kürze mitgeteilt wurde, dass man das Schiff im Namen des englischen Königs als Prise übernommen habe. Der Dannebrog wurde gestrichen und stattdessen der Red Duster gesetzt, ein roter Lappen mit dem Union Jack in einer Ecke.
    Sie hatten nie sonderlich gut auf die dänische Flagge geachtet. Das weiße Kreuz war vom Rauch des Schornsteins rußig, das Tuch selbst an den Kanten ausgefranst. Aber es war ihre Flagge. Es war die Hälfte dessen, was sie in der Fremde ausmachte. Nun hatten sie das Recht darauf verloren. Ihr Land hatte sich kampflos den Deutschen ergeben, und ihnen wurde die Flagge genommen. Sie zählten nur, wenn sie sich nicht länger als Dänen betrachteten.
    In diesem Moment wurde es ihnen klar: Sie würden nackt in den Krieg gehen, und die Entkleidung hatte begonnen.
    Der zweite Ingenieur wollte wissen, wie hoch

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