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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Cardiff, Swansea und Bristol erlebt. Manchmal kam es ihm vor, als würden sie durch ein Meer von Flammen fahren und die Formationen am Himmel über ihm nicht aus Kumulus-, Stratus- oder Zirruswolken bestehen, sondern aus Junkers 87 und 88 oder Messerschmitt 110. Wenn sie den Kanal passierten, gerieten sie in den Radius der weitreichenden deutschen Batterien bei Calais. In der Nordsee warteten die U-Boote. Sie waren überall, immer. Die ganze Welt zog sich zusammen und wurde schwarz wie eine Kanonenmündung. Sie nannten es nicht Angst. Sie empfanden keine Panik. Es gab eine andere Ausdrucksform: Schlaflosigkeit. Auf See gingen sie in zwei Schichten Wache. Wurden sie angegriffen, war an Schlaf nicht zu denken. In den Häfen mussten sie ständig das Schiff verholen, und dazu hatte jedes Mal die gesamte Besatzung anzutreten. Auch hier gab es keinen geregelten Schlaf. Schliefen sie überhaupt jemals? Sie schlossen die Augen. Sie waren einen erinnerungslosen Moment fort. Dann schreckten sie auf, weil der Tod ihnen seinen Schrei ins Ohr brüllte, und taumelten mit weit aufgerissenen Augen aus den Kojen – als befänden sie sich noch immer in einem Traum, in dem sie unablässig nach einem Ausgang suchten. Aber es gab keinen Ausgang, keine Bodenluke zum Himmel, keine Falltür auf Deck, keinen Horizont, hinter den man flüchten konnte. Sie waren umgeben von den drei Elementen, aber es waren nicht das Meer, der Himmel und die Erde, sondern das, was sie verbargen: die U-Boote, die Bomber und die Kanonen. Sie lebten auf einem Planeten, der im Begriff war zu explodieren.

    Albert Madsen hatte recht gehabt. Es war das Ende der Welt, das er damals in seinen Träumen gesehen hatte. Aber der alte Mann hatte vergessen, ihm zu erzählen, dass Knud Erik sich mittendrin befand.
     
    Er konnte noch zwei Stunden schlafen, bevor er die Mannschaft zu wecken hatte. Mit der Flut sollten sie die Themse ein Stück hinauffahren, und er hatte den Ehrgeiz, vor den anderen Schiffen klar zu sein. Er bat um einen traumlosen Schlaf.
    Er wusste nicht, dass er am nächsten Tag ein neues Wort lernen sollte. Es war wie alle anderen Wörter, die er in diesen Monaten lernte, ein technischer Begriff und sagte vor allem etwas über den grenzenlosen Erfindungsreichtum des Menschen aus. Er würde nie imstande sein, diesem Erfindergeist auf seinen verschlungenen und oft genug widersprüchlichen Wegen zu folgen. Aber das Ziel kannte er, und obwohl sein Wortschatz täglich wuchs, waren die Botschaften der Worte doch stets gleich. Sie erzählten von den ständig größer werdenden und immer phantasievolleren Möglichkeiten seiner eigenen baldigen Auslöschung.
    Er bekam den Schlaf, um den er gebeten hatte. Die Dunkelheit senkte sich über ihn und hielt ihn fest, diese seltene, begehrte Dunkelheit, in der er neue Kräfte sammelte. So lange war er darin gefangen, dass er mit diesen aufgerissenen Augen aus der Koje taumelte, die sonst nur ein Angriff verursachte. Er hatte seine Pflicht verletzt. Er hatte verschlafen.
    Knud Erik rannte aus der Kajüte. Bei vielen anderen Schiffen dampfte bereits Rauch aus den Schornsteinen.
    Ohne Vorwarnung dröhnte ein gewaltiger Donner über den Fluss, der an das nächtliche Bombardement erinnerte. Dann ein weiterer. Der Vordersteven der Svava wurde in die Luft gehoben und zerbrach. Das Schiff begann sofort zu sinken, während Rauch und Flammen sich mittschiffs zum Steuerhaus fraßen. Er sah Männer, die sich in den Fluss warfen. Das Feuer hatte einen von ihnen am Rücken erfasst, als er sprang.
    Dann erwischte es die Skagerak. Wieder war es der Bug, der explodierte. Zwei norwegische Dampfer flogen in die Luft, dann folgte ein Holländer.
    Sein erster Gedanke war Flucht. Aber wovor sollten sie fliehen? Wo war der Feind? Der Himmel war klar, und ein U-Boot konnte es unmöglich sein.

    Von einem der englischen Geleitboote näherte sich ein Ruderboot. Am Bug stand ein Mann mit einem Megafon und rief ihn an.
    Das war das neue Wort, das er lernte.
    «Seismische Minen», brüllte er.
    Knud Erik brauchte keine Erklärung. Die Erschütterungen der Schiffe hatten die Minen ausgelöst, als die Schrauben angeworfen wurden. In der Nacht zuvor hatte er die Minen gesehen, als sie an ihren Fallschirmen sanft durch die Luft schaukelten. Nur war es kein Grab gewesen, über das die blumenähnlichen Fallschirme gestreut wurden. Sie hatten den Fluss in einen neuen Friedhof zu verwandeln.
    Weitere Schiffe explodierten. Die übrigen blieben mit gelöschten

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