Wir Ertrunkenen
er das Recht auf sein eigenes Glück verloren. Jeder Gedanke an den Sinn seines eigenen Lebens verblasste. Er sah sich wie aus der Distanz, und er sah nichts mehr. Seine Seele hatte sich aufgelöst, der Mühlstein des Krieges hatte sie pulverisiert.
Knud Erik isolierte sich. Er kam nie in die Messe. Nicht einmal mit dem ersten oder zweiten Steuermann verbrüderte er sich. Auch mit den Kameraden aus der Kindheit in Marstal sprach er nicht mehr. Er nahm seine Mahlzeiten allein ein und öffnete den Mund nur, um Befehle zu geben.
Niemand versuchte, ihn aus seiner Einsamkeit herauszuholen. Niemand wendete sich mit einer lustigen Bemerkung an ihn oder stellte eine Frage, die sich nicht um die alltäglichen Verrichtungen an Bord drehte. Und doch halfen sie ihm. Sie halfen ihm, seine Einsamkeit zu erhalten, als wüssten sie, dass er den Preis, den er entrichtete, auch für sie bezahlte.
Andere hätten die Haltung der Mannschaft vielleicht als gefühllos bezeichnet – als würden die Männer seine Unzugänglichkeit mit Unzugänglichkeit vergelten, ja möglicherweise sogar mit Undankbarkeit. Sie taten das Gegenteil. Ein Schulterklopfen, ein freundliches Wort oder ein verständnisvoller Blick hätten ihn zusammenbrechen lassen.
Sie hielten ihn auf den Beinen. Sie schützten ihn, damit er sie in Ruhe beschützen konnte. Sie brauchten einen Kapitän und gaben ihm die Möglichkeit, es zu sein.
Lieber Knud Erik,
ich schreibe, um dir einen Traum zu erzählen, den ich letzte Nacht gehabt habe.
Ich stand am Strand und schaute über das Meer, wie ich es so oft als Kind tat. Wie damals spürte ich die gleiche Mischung aus Angst vor dem Meer und der Sehnsucht, darauf fortzusegeln. Plötzlich begann das Wasser
sich zurückzuziehen. Am Ufer war das Rasseln der Steine zu hören, die vom Sog erfasst wurden. Das Wasser wurde plattgedrückt, als ginge ein starker Wind darüber. Es dauerte lange, und schließlich war bis zum Horizont nichts anderes zu sehen als der nackte Meeresboden.
Wenn du wüsstest, wie ich mich nach diesem Augenblick gesehnt habe. Du weißt, wie sehr ich das Meer hasse. Es hat uns so viel genommen. Aber ich verspürte keinen Triumph, obwohl mein innigster Wunsch endlich in Erfüllung gegangen war.
Stattdessen erfasste mich die Vorahnung an etwas Furchtbares.
Ich hörte ein Brüllen. Weit draußen erhob sich eine Mauer aus weiß schäumenden Wassermassen, die rasch näher kam. Ich unternahm keinen Versuch zu fliehen, obwohl ich wusste, dass ich jeden Moment fortgerissen würde.
Es gab keinen Ort, an den ich mich hätte flüchten können.
Was habe ich getan? Was habe ich nur getan?
Das war die Frage, die wie ein Schrei in mir klang, als ich aufwachte.
Möglicherweise fndest du, dass es verrückt klingt, aber ich empfnde eine furchtbare Schuld, wenn ich durch die Straßen gehe. Ich sehe Jungen und Mädchen, ich sehe die Einkaufenden, ich sehe die Frauen – und es gibt viele Frauen –, ich sehe die Alten. Aber ich sehe nur wenige Männer, und ich fühle, dass ich sie verjagt habe, als ich hier in der Stadt absichtlich die Voraussetzungen für die Seefahrt zerstörte.
In dieser Stadt ist es nicht üblich, die Vermissten zu zählen. Aber ich tue es. Sicherlich sind es fünf-, sechshundert Männer, die nicht mehr länger unter uns weilen. Söhne, Väter, Brüder. Ihr seid auf der anderen Seite dieser Mauer, die der Krieg rund um Dänemark gezogen hat und die man «Demarkationslinie» nennt. Ihr fahrt im alliierten Kriegsdienst, und nur der Ausgang des Krieges entscheidet, ob ihr jemals wieder nach Hause kommen werdet. Doch auch der Sieg ist keine Garantie für euer Überleben.
Die große Welle meines Albtraums ist über uns gekommen, und ich bin es, die sie hervorgerufen hat.
Ich wollte den Seemann aus den Herzen der Männer jagen, und ich habe das Gegenteil von dem erreicht, was ich wollte. Als es nahezu keine Schiffe mehr in dem Heimathafen Marstal gab, habt ihr eure Heuer an anderen Orten gesucht. Ihr seid noch weiter fortgesegelt. Die Zeiten,
in denen ihr zu Hause bei uns sein konntet, wurden noch kürzer als früher. Nun seid ihr alle auf unbestimmte Zeit verschwunden, und einige von euch – viele, fürchte ich – für immer. Der einzige Beweis, den wir haben, dass ihr noch am Leben seid, sind eure Briefe, die wir in großen Abständen erhalten. Bleiben die Briefe aus, müssen wir die Ursache selbst erraten.
Lieber Knud Erik, ich habe einmal erklärt, dass du für mich gestorben wärst, und das ist
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