Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
Vom Netzwerk:
Rest seiner Würde bewahren.
    Knud Erik hatte einmal zu Wally gesagt, dass er nicht sein buddy wäre. Nun versuchte er es zu werden. Er spürte, wie das Gift der Selbstverachtung sich in ihm ausbreitete, und hoffte, dass er daran zugrunde gehen würde.
    Im Zug nach London schlief er ein.
    Wally weckte ihn, als der Zug außerhalb des Bahnsteigs anhielt. Knud Erik sah sich verwirrt im Abteil um. Die Reise zwischen New York und England war jedes Mal wie eine Zeitreise. Die Amerikaner befanden sich in einem Zeitloch, einem permanenten Vorkriegszustand, mit wohlgenährten Körpern und Gesichtern, die vor frivoler Gesundheit geradezu strotzten. Die Engländer hingegen sahen aus wie vergilbte Fotografien. Aus ihrer bleichen Haut war jegliche Farbe gewichen. Ihre Gesichter wirkten unscharf, wie Erinnerungen in einem alten Fotoalbum, das auf einem staubigen Dachboden vergessen wurde; sie vegetierten in einem Schattenland, das aus immer knapperen Rationen entstand.
    Sie hatten kaum das Stationsgebäude verlassen, als der Luftalarm begann. Es war schon spät, und zwischen den Häusern herrschte tiefe Dunkelheit. Ratlos blieben sie stehen. Sie sahen Menschen rennen und liefen in dieselbe Richtung. Irgendwo leuchtete eine Lampe mit einem
schwachen roten Schein. Es war der Eingang zu einem Luftschutzraum. Knud Erik entging die Ironie nicht. Auf dem Meer bedeutete ein rotes Licht noch ein Leben, das er auf dem Gewissen haben würde. Hier bedeutete es die Rettung. Einen Moment verspürte er Lust stehen zu bleiben und auf den Bombenregen zu warten.
    Absalon bemerkte sein Zögern und packte ihn am Arm.
    «Hier lang, Kapitän!»
    Er ließ die Beine entscheiden und lief den anderen nach.
    Im Luftschutzraum gab es kein einziges Licht. Eng saßen sie beieinander, umgeben von pechschwarzer Dunkelheit. Er hörte flüsternde Stimmen, ein Husten, ein weinendes Kind. Er hatte den Kontakt zu Wally und Absalon verloren. Es war eine Erleichterung, von lauter Fremden umgeben zu sein. Es roch nach ungewaschenen Körpern und muffiger Kleidung. Eine Luftabwehrbatterie direkt über dem Bunker begann zu schießen und ließ die Luft erzittern. Dann fielen die Bomben. Kalk und Staub rieselte von der Decke – als hätte der Tod Hände bekommen und versuchte, ihre Gesichter abzutasten, bevor er sie ergriff. Knud Erik hörte Seufzer und ein Wimmern. Irgendjemand weinte hemmungslos, jemand anderes tröstete mit monotonem Tonfall, bis auch diese Stimme in ein panisches «Shut up for Christ’s sake!» überging.
    « Leave her alone», mischte sich eine andere Stimme ein.
    Nur die Dunkelheit verhinderte, dass es zu einem Handgemenge kam.
    « I want to go home, please», bettelte eine Kinderstimme.
    Ein kleines Mädchen rief nach seiner Mutter, und die Stimme einer alten Frau antwortete mit dem Vaterunser.
    Der Boden bebte, als eine Bombe ganz in der Nähe einschlug. Einen Augenblick erwartete er, dass der Schutzraum über ihnen einstürzte. Es wurde so still, als hätte der Tod persönlich «psst» zu ihnen gesagt.
    Dann spürte er eine Hand auf seiner. Es war eine Frauenhand, klein und zart, schien es ihm, aber hart in der Handfläche, eine Frau, die mit ihren Händen arbeitete. Er streichelte beruhigend darüber. Ein Kopf lehnte sich an seine Schulter. In der Dunkelheit umarmte er eine unbekannte Frau. Noch eine Bombe fiel ganz in der Nähe, die Druckwelle erschütterte die Betonwände des Bunkers. Ein hysterischer Schrei, dann ein weiterer, und nach und nach ergaben sich die Eingesperrten der unwiderstehlichen
Macht der Massenhysterie, bis die Dunkelheit vor panischen Schreien vibrierte. Die Bomben fielen rhythmisch wie eine Begleitung aus Trommelschlägen.
    Die Frau zog ihn zu sich heran und küsste ihn gierig auf den Mund, während ihre Hand seinen Schritt entblößte. Knud Erik schob eine Hand unter ihren Mantel und spürte die Konturen einer Brust. Dann umschloss ihn ihr heißer Schoß. Die Schreie standen wie eine Mauer um sie herum. Die Bombeneinschläge diktierten den Rhythmus seiner Stöße. Sie nahmen einander in einer blinden, brutalen Lust, aber gleichzeitig spürte er, dass dieser weiche anonyme Frauenkörper voller uneigennütziger Zärtlichkeit war. Sie schenkte ihm die eigentliche Wärme des Lebens, und er gab sie ihr zurück, bis ihre Schreie sich mit der Kakophonie von panischen Stimmen mischten.
    Für einen Augenblick entkam er den roten Lichtern.
     
    Nach einigen Stunden verstummte die Luftabwehrbatterie über dem Schutzraum. Wieder

Weitere Kostenlose Bücher