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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Gleichgewicht zu halten, konnte es auch kippen lassen.
    In Liverpool kippte es.
     
    Die tägliche Rasur wurde zu einer Anstrengung. Wie rasiert man sich, ohne in den Spiegel zu sehen?
    Die Rasur war die letzte Bastion, bevor der endgültige Verfall einsetzte. Knud Erik wusste, dass dies ein ungeschriebenes Gesetz der Kriegsgefangenen in den deutschen Internierungslagern war. So fühlte er sich: als ein Gefangener des Krieges. Er war in die Hände des Feindes geraten, und der Feind saß in ihm selbst.
    Auf der letzten Reise hatten sie Munition geladen. Ein Treffer hätte die augenblickliche Vernichtung bedeutet. Nicht ein Mann wäre mit flehend entzündetem rotem Notfeuer zurückgeblieben. Nicht einmal eine Kapitänsmütze würde sich finden, wenn die Nimbus in einer gigantischen Stichflamme verschwände. Knud Erik ertappte sich bei dem Traum an die Erleichterung, die der Tod bedeutete. Aber kein Torpedo traf sie, keine Bombe ging durch das Deck und fand ihren Weg in den Laderaum.
    Die Nimbus war ein glückliches Schiff. Unbeirrt blieb sie auf ihrem Kurs durch die Ertrinkenden, und er verfluchte ihr Glück.
     
    Der Bordfunk empfing den Kanal der englischen Luftwaffe, und wenn sie gegen Ende einer Atlantiküberquerung in die Nähe der englischen Küste kamen, versammelten sie sich auf der Brücke, um den Gesprächen zwischen dem Kommandeur und den Piloten der RAF zuzuhören. Sie hörten die Worte «Good luck and good hunting» , das war
das Zeichen für die Funkübertragung eines Kampfes auf Leben und Tod. Mit Rufen und Schreien unterstützten sie ihre Seite. Sie verfluchten den Feind, den sie nicht hören konnten, bisweilen aber sahen, wenn die Kämpfe sich direkt über ihnen am Himmel abspielten. Sie ballten die Fäuste, die Adern an der Stirn schwollen an. Sie feuerten die Piloten an, die ihre Warnungen oder Triumphrufe in den Äther schrien und manchmal zusammengeschossen in ihren Sitzen versanken. Es waren Männer, die sich für sie opferten, und doch wünschten sich alle, sie abzulösen und ihre ewige Warteposition auf Deck mit dem exponierten Platz eines Piloten zu vertauschen. Es gab niemanden, der in diesem Augenblick nicht den Wunsch hatte zu töten. Sie sehnten sich danach, für den Tod anderer verantwortlich zu sein, statt ständig auf ihren eigenen zu warten. Hätten sie einen Revolver zur Hand gehabt, hätten sie sich beherrschen müssen, um sich nicht wie Hunde niederzuschießen, so erregt waren sie.
    Nur Knud Erik träumte nicht von einem Finger am Abzug. Er wollte bloß das Ziel der Kugel sein. Auf ihn hätten sie schießen können. Er hätte sie gern erlöst.
     
    Er hielt Wally auf, als der mit einem Koffer in der Hand die Gangway hinunterwollte. Er hatte Wally von all den Dingen prahlen hören, mit denen er ihn in New York gefüllt hatte: Nylonstrümpfe, lachsfarbene Büstenhalter aus Satin, Spitzenhöschen.
    Knud Erik musste sich zusammennehmen, um nicht zu schwanken.
    «Nimm mich mit», sagte er mit belegter Stimme, «ich will sehen, was du dir für deine Unterwäsche kaufen kannst.»
    Es war eine Bitte, doch aus seinem Mund klang es wie ein Befehl – ein Befehl, den kein Kapitän geben darf, wenn er sich den Respekt seiner Mannschaft bewahren will: Zeig mir den Weg in die Gosse, lass uns bei der Selbsterniedrigung Kameraden sein.
    Knud Erik war aus seiner Zelle gekommen, um Selbstmord zu begehen, ohne den Revolver benutzen zu müssen.
    Anton und Vilhjelm waren nicht da. Sie hätten ihn aufgehalten. Wally war weder alt genug, noch hatte er die Erfahrung. Knud Erik sah den Blick des Jungen unsicher werden, aber er wusste, dass Wally nicht wagen würde, etwas einzuwenden.

    « Aye, aye, captain» war alles, was er sagte.
    Absalon stand neben ihm.
    «Aber Kapitän … », begann er.
    Knud Erik hörte, dass es der Anfang eines Protestes war. Schließlich war er dabei zu desertieren. Die Docks in Liverpool wurden permanent bombardiert. Ständig mussten sie das Schiff verhohlen. In einer solchen Situation konnte der Kapitän nicht plötzlich verschwinden. Es war ein unverzeihlicher Verrat. Nun gut, also musste er diesen Verrat den übrigen noch hinzufügen.
    Er hob abwehrend die Hand.
    «Vilhjelm wird sich darum kümmern …»
    Absalon schaute ihn nicht an.
    Auf dem Weg zum Bahnhof hielten sie zwischen den zerbombten Häuserreihen, in denen magere Männer und Frauen Mauerbrocken wegräumten, Abstand zu ihm. Aber nicht aus Feindseligkeit, sondern weil er der Kapitän war. Sie wollten ihm den letzten

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