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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Flugzeuge, und es drohte der Verlust der Ladung. Sie waren wegen der Ladung unterwegs, nicht um ertrinkende Seeleute zu retten.
    Es war eine Regel, die der bitteren Notwendigkeit entsprang. Knud Erik wusste es. Und doch empfand er sie als Übergriff auf alles, was ihn ausmachte. Nicht ein Torpedo würde ihn vernichten, es war diese Regel, die ihn zwang, die Hilferufe der Ertrinkenden zu ignorieren.
    Am Ende des Konvois fuhren die Begleitboote. Ihre Aufgabe bestand darin, in Seenot geratene Männer an Bord zu nehmen, doch häufig wurden sie von den massiven Angriffen der Flugzeuge oder den weißen Kielwasserstreifen der Torpedos, die sie zu gewagten Ausweichmanövern zwangen, daran gehindert. Dann blieben die Überlebenden zurück und verschwanden in der weiten See. Das Letzte, was sie von ihnen sahen, waren die roten Notfeuer an ihren Schwimmwesten.
    Sie waren die Glücklichen.
    Mit unterkühlten Körpern schliefen sie erschöpft in den Tod. Oder sie gaben auf, zogen die Schwimmweste aus und ließen sich in die auf sie wartende Dunkelheit sinken. Die roten Lichter glühten noch einige Zeit weiter, bevor eins nach dem anderen erlosch.
    War ein Schiff getroffen und konnte das angreifende U-Boot lokalisiert werden, eilten die Zerstörer herbei und warfen ihre Wasserbomben. Gab es noch Überlebende im Wasser, wurden sie von dem enormen Druck, der die armierten Stahlplatten eines U-Boots sprengen konnte, innerlich zerrissen. In dem dickflüssigen Geysir aus Wasser, der eine unterirdische Detonation verkündete, wurden sie in die Luft geschleudert; die Lungen traten ihnen aus dem Mund; es waren zerfetzte Menschenstumpen, von denen nicht einmal ein Schrei zurückblieb.
    Knud Erik hatte es auf dem Weg zurück nach Halifax gesehen.
    Sie hatten den Befehl, nicht vom Kurs abzuweichen, weil ständig die Gefahr der Kollision mit anderen Schiffen des Konvois drohte, wenn sie auf der Flucht vor den U-Booten auf top steam gingen. Er hatte mit dem Ruder in der Hand auf der Brücke gestanden und war direkt in ein
ganzes Mohnfeld roter Notsignale gesteuert, die warnend vor dem Bug der Nimbus leuchteten. Er hatte das wilde Trommeln am Schiff gehört, wenn die Überlebenden in ihren Schwimmwesten den Rumpf entlangglitten und verzweifelt dagegen traten, um nicht in der Schraube zu enden. Als er sich umsah, färbte der Schaum des Kielwassers sich rot von zerstückelten, herumwirbelnden Körperteilen.
    Don’t look back hieß die Regel in einem solchen Moment, und er tat es nie wieder.
    Doch etwas in ihm sah auch weiterhin das, was noch vor einer Minute ein Mensch gewesen war, und er schaute so lange hin, bis etwas in ihm versteinerte. Niemand – niemand – handelte gern so gegenüber einem anderen Menschen. Und doch hatte er es getan. Verhalte dich gegenüber anderen so, wie du von ihnen behandelt werden möchtest! Wenn er sich an diese Regel nicht mehr halten konnte, was blieb dann noch?
    Nichts, absolut nichts.
    In der Kapitänskajüte zählte er die roten Lichter. In ihrem Schein war er nackt. Er verlor seinen letzten Halt. Er lieferte seine Ladung ab. Aber er tat dennoch das Falsche. Er schadete anderen, und dadurch schadete er sich selbst. So eng fühlte er sich denen verbunden, die im Wasser nach seiner Hilfe schrien.
    Wurde der Konvoi angegriffen, erschien Knud Erik mit einem starren, harten Gesichtsausdruck auf der Brücke. Er dachte nicht an die U-Boote. Er dachte auch nicht daran, dass zu den Schiffen, die getroffen wurden, ebenso gut auch die Nimbus gehören könnte. Er bereitete sich auf das Auftauchen der roten Lichter vor. Erschienen sie, schob er wortlos den Rudergänger zur Seite und übernahm selbst das Rad. Er befahl, die Brücke zu räumen. Er wollte allein sein, nicht nur, wenn er versuchte, den voraus schaukelnden Notfeuern auszuweichen, sondern auch, wenn er mitten in sie hineinsteuern musste, weil es keine andere Möglichkeit gab. Er war der Kapitän, er legte den Kurs fest, er hatte die Verantwortung.
    Knud Erik schützte seine Besatzung. Er wollte nicht, dass sie belangt werden konnte. Wenn sie es für richtig hielten, könnten sie ihn als Schuldigen benennen.
    Er wusste nicht, was sie dachten. Nie sprach er mit ihnen darüber.
    Wenn es überstanden war, ging er in seine Kajüte und öffnete die
Whiskyflasche. Dann betrank er sich bis zur Bewusstlosigkeit. Das war sein Ersatz für Buße, denn er wusste, dass keine Buße möglich war. Er hatte etwas Nichtwiedergutzumachendes getan. Dort oben auf der Brücke hatte

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