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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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das Furchtbarste, was eine Mutter sich antun kann. Ich weiß so wenig von dir, nur das, was ich von anderen höre, und in meiner Nähe schweigen sie. Ich spüre, dass sie mich als etwas Unnatürliches betrachten. Ob sie mir vergeben haben, was ich dieser Stadt antat, weiß ich nicht. Dass ich dahinterstehe, wissen sie wahrscheinlich nicht. Aber dass ich dir meine Hand entzog, hat mir niemand vergeben, und ich bin noch einsamer geworden, als ich es ohnehin schon war.
    Du wirst diesen Brief nicht zu sehen bekommen. Ich schicke ihn nicht ab. Wenn der Krieg vorüber ist und du heimgekehrt bist, werde ich ihn dir überreichen.
    Ich bitte um nichts anderes, als dass du ihn dann liest.
    Deine Mutter
     
    In New York ging Knud Erik nicht an Land. Er hatte größere Angst vor dem festen Boden unter den Füßen als vor dem Meer. Er ahnte, dass er nie wieder über eine Gangway gehen würde, wenn er erst einmal seinen Fuß auf den Kai gesetzt hatte. Und das hätte Verrat bedeutet. Er würde sich außerhalb des Krieges stellen. Doch auch wer sich im Krieg befand, übte Verrat. Das hatten ihn die roten Lichter gelehrt.
    Das war die Wahl, die der Krieg bot, die Wahl zwischen zwei Arten von Verrat.
    Auf der Brücke tat er seine Pflicht allein, seine Pflicht gegenüber den Alliierten, gegenüber dem Krieg und dem kommenden Sieg, gegenüber dem Konvoi und der Ladung. Aber er tat seine Pflicht nicht gegenüber den Menschen, die nach seiner Hilfe schrien. Er hatte den Eindruck, als riefen sie seinen Namen, jeder Einzelne von ihnen.

     
    Vilhjelm ging zur Upper East Side, um Isaksen und Kristina zu besuchen. Eine Sekunde war Knud Erik versucht mitzukommen. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, war Klara konfirmiert worden, hinterher hatten sie ihn zum Mittagessen eingeladen. Einen Moment lang hätte er Vilhjelm gern Gesellschaft geleistet. Dann schüttelte er den Kopf. Er zog die Einsamkeit seiner Kajüte vor. Dort saß er wie in einem Schutzraum.
    Es gab Männer, die anfingen, ihre Frauen zu zählen, wenn sie die Nerven verloren. Als hätten die Gedanken an all die Eroberungen, die sie in fremden Häfen gemacht hatten, einen stärkenden Einfluss. Frauen in die eine Waagschale, Tote in die andere. Es ergab durchaus eine Balance.
    Knud Erik hätte in New York an Land gehen und einen Beitrag zu diesem Gleichgewicht leisten können. Er war einunddreißig Jahre alt und nicht verheiratet. Es war nicht zu spät, aber auch nicht zu früh, wie er sich selbst oft sagte. Er verspürte eine gewisse Unruhe, er hatte viele Frauen gekannt. Es war keine unreife Gier, die ihn von einer endgültigen Wahl abhielt. Es war Unentschlossenheit, ein Zaudern, das etwas Zwiespältigem in seinem Inneren entsprang. Nur wusste er es nicht zu benennen. Es kam vor, dass er noch immer an Miss Sophie dachte, diese verrückte Göre, die ihm den Kopf verdreht hatte, als er gerade mal fünfzehn war. Verflucht, sie konnte es doch wohl nicht sein. Schließlich hatte er sie kaum gekannt, und ihr Benehmen, das er zunächst geheimnisvoll und anziehend gefunden hatte, war nichts anderes als jugendliche Affektiertheit gewesen. Und doch schien sie ihn mit einem Fluch belegt zu haben. Mit ihrem plötzlichen Verschwinden, einem Verschwinden, das alles bedeuten konnte – Tod, Märchen und Abenteuer –, hatte sie ihn an sich gebunden. Er suchte sie weder in den Bars der Hafenviertel noch bei den bodenständigeren Mädchen aus Marstal. Aber es gab etwas, das ihm fehlte, und jedes Mal, wenn er es packen wollte, war es verschwunden.
    Zu einer einzigen Verlobung war es in Marstal gekommen. Sie hieß Karin Weber und hatte sich wieder von ihm getrennt. «Du bist immer so merkwürdig abwesend», hatte sie gesagt und damit nicht die übliche Abwesenheit der Seeleute gemeint. Er wusste es selbst.
    Etwas in ihm sehnte sich ungeheuer nach einer Familie. Er brauchte einen Menschen, den er vermisste. Er brauchte ein Gegengewicht zu all dem Furchtbaren, das der Krieg ihm antat, und das konnte er in den Bars der Hafenviertel nicht finden. Er war ein Schiff ohne Anker.

    In seiner Kapitänskajüte saß er wie ein Mönch in seiner Zelle. Aber es gab nichts Erbauliches an dieser Einsamkeit. Er zählte die roten Lichter. Er zählte seine Seele kurz und klein. Sein Traum von einem Leben, das er gehabt haben könnte, zerfiel wie die Sandburg eines Kindes unter einer gnadenlosen Wüstensonne.

    In Liverpool desertierte er. Er floh vor dem Pflichtbewusstsein.
    Der gleiche Whisky, der ihm half, das

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