Wir Ertrunkenen
Ausgangspunkt nicht in einer bestimmten Kränkung hatte, sondern dessen Ursache eher das Gefühl von Machtlosigkeit war, das mich mein ganzes Leben verfolgt hatte. Ich packte den Eimer Farbe und warf ihn gegen die raue, grauweiße Marmorsäule, in der die Daten von Alberts Geburt und Tod eingraviert sind.
Wieder und wieder schrie ich die gleichen drei Worte heraus. Ich wollte wohl, dass es wie eine Verwünschung klang, ja geradezu wie das Jüngste Gericht, aber ich kann mir vorstellen, dass diese Worte in jedem,
der sie hörte, das tiefste Mitleid ausgelöst haben müssen, denn mein Wahnsinn schien offensichtlich.
«Alles muss weg! Alles muss weg!»
Ich verriet meinen Plan – aber zum Glück gab es nur Thiesen, der mich hörte. Er verstand sicher die Worte, aber nicht den dahinterliegenden Sinn.
Der Totengräber kannte meine Geschichte gut. Er wusste, dass ich viele Tage in qualvoller Ungewissheit über dein Schicksal zugebracht hatte. Nun ergriff er meine Hände. So, als wollte er mich beschützen statt verhindern, dass ich noch weitere Verwüstungen anrichtete.
«Beruhigen Sie sich, Frau Friis, es wird schon wieder. Gewiss sind Sie nicht ganz bei sich», sprach er besänftigend auf mich ein.
Das Fürchterliche war ja, dass ich gerade in diesem Augenblick ganz bei mir war. Ich war mehr ich selbst als jemals zuvor und als ich es jemals wieder sein würde. Die Worte kamen direkt aus meinem Herzen: Alles muss weg. Ich gab das ganze Ziel meines Lebens preis.
Alles muss weg.
Endlich hatte ich es ausgesprochen.
Erschöpft sank ich vor Thiesens Füßen ins Gras.
«Entschuldigung», sagte ich, als er mir auf die Beine half. «Ich war gewiss nicht ganz bei mir.»
Ich bekräftigte seinen Irrtum. Ich gab ihm recht. Das musste ich tun, wenn ich weiterhin unter Menschen leben wollte.
«Nein, ich war gewiss nicht ganz bei mir», wiederholte ich.
Alles muss weg. Jetzt ist alles weg, und ich weiß, dass ich es niemals so gewollt habe. Ich gehe in den Straßen dieser Stadt umher, die wie unter einem Fluch steht. Die Stadt ist um die Hälfte ihrer Einwohner geschrumpft – um die Männer. Und ich sehe mehr und mehr Frauen, die diesen Ausdruck in den Augen haben, der besagt, dass es nun schon so lange her ist, seit sie den letzten Brief von der anderen Seite der Grenze erhielten, so lange, dass sie schließlich die Hoffnung aufgegeben haben.
In unserer Stadt ist es nicht üblich, über die Toten Buch zu führen. Aber ich weiß, dass weit mehr Männer dort draußen bleiben werden, als Marstal je auf der Neufundlandroute und im letzten Krieg verlor. Es geht den Ertrunkenen, wie es ihnen schon immer ergangen ist. Sie haben keine Erde als letzte Ruhestätte.
Jeden Tag gehe ich auf den Friedhof und lege Blumen und Kränze auf die wenigen Gräber, die wir haben. Und ich pflege Alberts Grab.
Ich bitte dich noch einmal, mir zu vergeben, dass ich dich einst zu den Toten verbannt habe.
Deine Mutter
Sie brauchten drei Tage, um die Küste zu erreichen, und landeten im ersten Morgengrauen. Der Himmel war bedeckt. Ein rosa Steifen über dem Land kündigte den Sonnenaufgang an. Den ganzen Weg über hatten sie ruhiges Wetter gehabt, nun sahen sie einen endlosen Sandstrand mit weißen Dünen vor sich. Sie manövrierten durch die Brandung, und Absalon und Wally sprangen ins Wasser, um das Boot auf den Strand zu befördern. Dann hievten sie Old Funny aus dem Boot und setzten ihn in seinen Rollstuhl. Es war schwierig, ihn durch den Sand zu schieben. Bluetooth lief nebenher. Er hatte das Bedürfnis, nach der langen Untätigkeit die Beine zu bewegen. In der Hand hielt er den Stoffhund Skipper Ruf, der, wie er behauptete, auch auf dem Meer geboren war. Für sie beide sollte ein neues Leben beginnen. Das ewige Auf und Ab der Wellen hatte nun ein Ende. Jetzt waren sie auf dem langweiligen Festland, und hier sollten sie bleiben, jedenfalls für eine Weile.
«Wo sind die Häuser?», wollte Bluetooth wissen. Er hatte noch nie einen Strand gesehen. Das Meer und zerbombte Kaianlagen stellten die Welt dar, die er kannte.
Etwas war jedoch gleich geblieben. Er sah sich um. Dort ging Papa Absalon, hier sein besonderer buddy Wally, dort Papa Knud Erik, Papa Anton und Papa Vilhjelm. Old Funny saß wie immer in seinem Rollstuhl, und hier war seine Mutter.
Sie fanden rasch eine Straße, die vom Strand wegführte. Es gab keinerlei Verkehr. Knud Erik trug in der Hand einen Lederkoffer, den er vom Schiff mitgenommen hatte.
«Was ist da drin?»,
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