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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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nicht, ob sie hoffte, dass er sie wegwerfen würde.
    «Ich will sie anziehen», erwiderte Albert.
    «Das darfst du nicht!»
    Sie schlug die Hände vor den Mund, als fürchtete sie ein Unglück, wenn er sie anzöge. Aberglaube oder Vorahnung. Man konnte es nicht sagen. Die Angst einer Mutter war es in jedem Fall. Sie ahnte, dass er dieses Mal weit weg gehen und viele Jahre fortbleiben würde, und das war für sie gleichbedeutend mit dem Tod.
    «Das werde ich jetzt aber», sagte er nur.
    Er musste sich bücken, um durch die Tür zu kommen, seine Schultern füllten den Rahmen aus.
    «Du hast Vater versprochen, sie so gut wie neu zu machen», sagte er, als er in Schuhmacher Jakobsens Werkstatt in der Kongegade stand.
    «Das ist zwölf Jahre her. Du erinnerst dich gut», sagte Jakobsen.
    «Aber ein Versprechen ist ein Versprechen. Du kannst sie Sonnabend abholen.»
     
    Sieben Monate war Albert als Matrose an Bord einer Hamburger Brigg, die nach Westindien segelte. Er sah Palmenstrände und Fliegende Fische. Er sah Menschen, die schwarze und braune Haut hatten. Er sah ihre verängstigten Blicke und ihre hängenden Schultern, und er wusste, ohne dass es ihm jemand hätte erklären müssen, dass sie den Tampen ebenso wie er kennengelernt hatten. Hier waren Männer wie Isager keine Lehrer. Sie waren die Herrscher dieser sonnenbeschienenen Inseln, auch derjenigen, auf denen Dänisch gesprochen wurde, und sie herrschten mit dem Tampen.
    Er trank Kokosmilch und aß Alligatorfleisch, das wie Hühnchen schmeckte. Er schiss sieben Arten von Scheiße, doch nicht eine davon wurde aus ihm herausgeprügelt.
    Er war entkommen.
    «Es hört niemals auf», hatte Hans Jørgen gesagt. Doch es hörte auf.
Wenn man ein siebzehnjähriger Matrose ist, groß und stark genug, um sich verteidigen zu können, dann hört es auf. Er sah die schwarzen und braunen Menschen, die die Brigg beluden und löschten. Sie gehörten nicht sich selbst. Sie waren der Besitz des Tampens, und er dachte, wie es ihm wohl ergehen würde, wenn er einer von ihnen wäre, bis an sein Grab von Schlägen verfolgt. Hätte man ihn schließlich gebrochen? Oder hätte er nach jemandem gesucht, an den er seine Demütigung hätte weitergeben können, nur um sich selbst als Mensch zu fühlen? Hätte er einen Karo zum Totschlagen gefunden, ein Haus zum Niederbrennen, eine Frau, die er in den Wahnsinn trieb?
     
    Wir trafen uns jeden Winter in Marstal und sahen uns an. Wir wurden allmählich zu Männern. Wir bekamen tief liegende Augen. Unsere Backenknochen stachen mehr und mehr hervor, als wären sie geschwollen, als hätten die Schläge, die wir im Lauf der Zeit bekamen, ihre Spuren für immer hinterlassen. Aber unsere Hände wurden größer und die Handflächen härter. Unsere Oberarme schwollen an, und auf den Unterarmen wetteiferten die Sehnen und Adern um ihren Platz unter dem blauen Spinngewebe der Tätowierungen. Wir wuchsen und wurden stark im Trotz gegen den Tampen.
    Albert kehrte nicht nach Hause zurück.
     
    Er kam nach Hamburg zurück und brach sofort wieder auf, diesmal nach Südamerika. Bei seiner Rückkehr musterte er in Antwerpen ab und ließ sich von einer Liverpooler Bark anheuern, die nach Cardiff segelte, um Kohle zu laden. Er wollte Englisch lernen.
    Als der Bootsmann seine Befehle rief – «All hands up anchor!» und «Heave my hearties, heave hard!» –, hörte er die Stimme seines Vaters. Sein papa true war ihm wieder nah. Er erinnerte sich an die amerikanischen Ausdrücke, die seine Mutter so irritiert und die Brüder so begeistert hatten.
    «Hanggre», sagte er in der Messe.
    Seine Kameraden schüttelten den Kopf und lachten über ihn.
    «Monki», sagten sie.
    Es dauerte lange, bevor er verstand, dass sein papa tru niemals Amerikanisch geredet hatte. Pidgin war der Ersatz der Chinesen und Kanaken
für Englisch. Das hatte ihn sein papa tru gelehrt, ein Affenenglisch, eine Kannibalensprache.
     
    Albert kreuzte den Äquator und wurde getauft wie sein papa tru vor ihm. Er wurde gezwungen, die ockerfarbene Amphitrite zu küssen, aus deren pockennarbigen Wangen spitze Nägel stachen. Er wurde mit Talg und Lampenruß eingeschmiert und von Meerfrauen und Niggerjungen mit dem Kopf unter Wasser gehalten, bis seine Lungen beinahe platzten. Er wurde mit einem rostigen Messer rasiert und bekam Narben, die er seither unter einem Bart verbarg.
    Er lernte ein Lied, das er uns viele Jahre lang vorsang. Er sagte immer, es sei das wahrhaftigste Lied, das man über das

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