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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Ein Wort, das wir noch nicht kannten.
     
    Ein Gefühl war tief in uns verwurzelt, dass nichts sich verändern würde, solange wir noch Land unter den Füßen hatten. Isager war immer derselbe.
Seine Söhne hassten und fürchteten ihn. Wir hassten und fürchteten ihn. Ob seine Frau ihn hasste und fürchtete, wusste niemand. Allerdings schlug sie ihn nicht mehr. Sie lebte von nun an in ihrer eigenen Welt. Wir hatten ihn seines Hundes beraubt, seines Hauses und des Verstands seiner Frau, doch er blieb unverändert derselbe. Er schlug uns wie gewöhnlich und brachte uns nichts bei. Wir schlugen uns mit ihm wie gewöhnlich und lernten nichts bei ihm.
    Wir verfolgten ihn nicht mehr, wenn er an den Winterabenden von dem doppelten Rumtoddy bei Kaufmann Mathiesen nach Hause wanderte. Wir warfen Silvester auch keinen Unrat mehr in seine Wohnstube. Aber wir füllten weiterhin die Tintenfässer mit Sand, verstopften den Kachelofen, sprangen aus dem Fenster, schwänzten und stahlen seine Bücher. Schon bald war Niels Peter so weit, um ihn auf den Boden zu werfen, und eines Tages würde es Albert sein.
    Isager war unsterblich.

DAS GESETZ
    W ir hatten den Tampen kennengelernt. Nun sollten wir das Meer kennenlernen.
    War es wirklich wahr, was Hans Jørgen gesagt hatte, dass sie niemals aufhörten, uns zu schlagen?
    Laurids hatte Albert einmal über die Strafen an Bord der Kriegsfregatte Neversink erzählt, wo ein Unglücklicher, der sich etwas zuschulden hatte kommen lassen, an den Mast gebunden und ausgepeitscht wurde, bis das Blut spritzte. Sie prügelten sieben Arten von Scheiße aus ihm heraus, hatte Laurids gesagt. Wir verstanden den Ausdruck nicht, und Laurids sagte, es wäre Amerikanisch, seven kinds of shit. Und wir dachten, so muss die Welt außerhalb unserer Insel sein. So war das große Amerika. Sie hatten von allem mehr, auch von Scheiße. Wir hatten nie bemerkt, dass aus uns verschiedene Arten von Scheiße kamen. Die Farbe konnte sich verändern. Es konnte mal weicher und mal fester sein, aber Scheiße blieb doch Scheiße. Wir aßen Kabeljau, Makrele und Hering, süße Milchsuppe, Schwartenwurst, Kuttelsuppe und gehackten Kohl, und danach konnte man doch wohl nur auf eine Art scheißen. Das also hatte die Welt mit uns vor. Wir würden etwas anderes zu essen bekommen, Ungeheuer aus der Tiefe, die die Fischer hier niemals an den Haken kriegten, Tintenfische, Haie, die munteren Thunfische, den Flor der farbigen Fische eines Korallenriffs, Früchte, die ein Bauer niemals gesehen hat, Bananen, Apfelsinen, Pfirsiche, Mango und Papaya, das Curry der Inder, die Nudeln der Chinesen, Fliegende Fische in Kokosmilch, Schlangenfleisch und Affenhirn, und wenn sie uns schlugen, würden wir sieben Arten von Scheiße von uns geben.

    Damals segelten wir meist mit Korn aus deutschen und russischen Ostseehäfen. Wir liefen Norwegen und Schweden an und kehrten von dort mit Holz zurück. Nur probierten wir keine fremden Gewürze und lernten weder besondere Fische noch neue Früchte kennen. Erbsen, Grütze, gesalzener Fisch und Graupensuppe mit Klößen aus Gerstenmehl und Trockenpflaumen, das war unsere tägliche Kost. Sirup und Essig kam in all unsere Suppen und Saucen, das Saure zusammen mit dem Süßen. Allerdings ist das Süße bei einem Leben auf See nur schwer zu finden. Wenn wir geschlagen wurden, war es noch immer die gleiche Scheiße, die aus uns herauskam.
     
    Wir sagten unseren Müttern Lebewohl. Unser ganzes Leben waren sie da gewesen, wahrgenommen hatten wir sie allerdings nie. Sie standen gebückt über den Waschkesseln oder Töpfen, und ihre Gesichter waren rot und geschwollen vor Hitze und Feuchtigkeit. Sie hielten alles zusammen, wenn unsere Väter sich auf See befanden. Jeden Abend sanken sie mit der Stopfnadel in der Hand erschöpft auf der Bank zusammen. Wir sahen etwas, aber nicht sie. Wir sahen ihre Unermüdlichkeit. Wir sahen ihre Müdigkeit. Wir fragten sie nie nach etwas. Wir wollten ihnen nicht zur Last fallen.
    So zeigten wir unsere Liebe: durch Schweigen.
    Stets hatten sie rote Augen. Morgens, wenn sie uns weckten, lag es am Rauch des Ofens. Und am Abend, wenn sie uns, noch immer in denselben Kleidern, eine gute Nacht wünschten, war es die Müdigkeit.
    Manchmal hatten sie rote Augen, weil sie über jemanden weinten, der nie wieder nach Hause kam.
    Frag uns nach der Farbe der Augen einer Mutter.
    «Sie sind nicht braun. Sie sind nicht grün. Sie sind auch nicht blau oder grau. Sie sind rot.»
    So würden wir

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