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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Blut ähnelte er einem heidnischen Götzenbild, das ausschließlich Menschenopfer akzeptierte. Albert glaubte, er werde um Wasser und Seife bitten, um sich damit die Wunden zu säubern, doch O’Connor bat um nichts. Er saß nur da, während das Blut auf Stirn und Hals gerann. Die Narben waren seine Tätowierungen. Nun fügte er dem grausamen Kunstwerk, in das er sein Gesicht und seinen Körper verwandelt hatte, neue Details hinzu.
    Dann pfiff er. Ein langhaariges schwarzes Scheusal von Hund, den niemand vorher bemerkt hatte, schlich mit dem lauernden Gang eines Wolfs heran und legte sich ihm zu Füßen. O’Connor zog seinen großkalibrigen Revolver aus der Tasche seiner Nankinghose und begann nachdenklich die Trommel zu drehen.
    Am Abend wagte sich Albert in die Mannschaftslogis, aber er kam bald wieder an Deck, um die Nacht dort zu verbringen. Im Schein eines Talglichts hatte er die Männer in merkwürdig verrenkten Stellungen
auf dem Boden liegen sehen. Einige saßen mit den Händen am Kopf auf der Schlafbank. Er wusste nicht recht, ob sie schliefen oder nicht. Das Schott war voller Blut, und überall auf dem Boden befand sich Erbrochenes.
    Am nächsten Morgen tauchten die Leute aus der Kajüte auf. Alle trugen sie Spuren der Prügelei vom Vortag. Einige hinkten, andere bewegten sich langsam und vorsichtig, als ob sie unter ihrem Pullover irgendetwas verbergen würden, das schmerzte. Ihre Gesichter waren verschwollen, die Augenpartien bunt verfärbt. Einer hatte sich die Nase gebrochen, allerdings deutete deren Form darauf hin, dass dies nicht das erste Mal war. Es waren robuste Männer, die an Schläge und die Nachwirkungen von langen Sauftouren gewöhnt waren. Sie konnten nahezu alles ertragen, ohne sich zu beklagen. Doch sie wiesen einen Gesichtsausdruck auf, der selten bei einem Seemann ist. Sie sahen verschüchtert aus. Vermieden es, sich gegenseitig anzuschauen. Blickten auch nicht auf O’Connor, wenn er seine Befehle brüllte. Sie starrten hinunter auf ihre Hände, oder ihre Blicke verloren sich in der Takelage.
     
    Es gab auf der Emma C. Leithfield einen Koch, und das war nicht die Art von Koch, mit der wir auf den Marstaler Frachtseglern fuhren. Wir begriffen es schon, als Albert uns auf diesen Unterschied hinwies. In der Kombüse hatten wir alle ja als große Burschen angefangen, die von der Kunst des Kochens nicht viel mehr verstanden, als im Sturm einen Topf übers Feuer zu halten, dafür zu sorgen, dass es stets heißen Kaffee gab, und ansonsten Männern den Hunger vom Leib zu halten, die ein weitaus größeres Interesse am Füllen ihrer Mägen als an Gaumenfreuden hatten.
    Doch genau so war Giovanni nicht. Er war Italiener, und er sorgte dafür, dass es jeden Tag frisch gebackenes Brot und mittags und abends eine warme Mahlzeit gab; darüber hinaus noch pies und feine Kuchen, und zwar fürs Vor- und Achterschiff. Wir aßen besser als in den besten boardinghouses, ja sogar die Logismutter, Frau Palle in der Kastanienallee in Hamburg, konnte sich mit Giovanni nicht messen.
    Die Emma C. Leithfield war ein merkwürdiges Schiff. Sie hatte – und darauf konnten sich die Männer trotz aller Sprachunterschiede sehr schnell einigen – den schlimmsten Steuermann und den besten Koch
der amerikanischen Flotte. Die Kombüse war der Himmel, das Deck die Hölle.
     
    Giovanni war der Letzte, der an Bord kam, und er kam nicht allein. Er brachte zwei Spanferkel, zehn Hühner und ein kleines Kalb mit. Er baute ihnen eine Einfriedung auf dem Vordeck und ließ sie dort herumlaufen.
    O’Connors Hund wurde unruhig und verließ den Platz zu Füßen seines Herrn, um mit seiner großen offenen Schnauze und hungrigem Blick auf dem Vordeck herumzustreunen. Giovanni ging direkt auf das Raubtier zu, das seine Zähne fletschte und ihn bedrohlich anknurrte. Es war ganz eindeutig der Ansicht, dass das gesamte Schiff sein Territorium war.
    Giovanni sah dem Hund starr in die Augen. Dann hob er die Hand, nicht um ihn zu schlagen, sondern eher, um dem unverständigen Tier etwas zu erklären. Es sah aus, als wollte er ihn hypnotisieren. Der Hund legte sich auf den Bauch. Er fiepte jämmerlich. Dann begann er rückwärtszukriechen. Es sah so komisch aus, wie dieses bissige Monster vor dem kleinen flinken Mann mühsam auf dem Bauch kroch, dass die Matrosen, die den Zwischenfall beobachteten, anfingen zu lachen.
    O’Connor sah es auch. Er lachte nicht.
     
    O’Connor aß nicht gemeinsam mit den übrigen Offizieren. Er saß in

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