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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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erfreuliche Überraschung!», rief er aus. «Und ich dachte schon, der Spaß sei vorbei.»
    Er nahm sein Gewehr und legte es an die Schulter. Dann setzte er es wieder ab.
    «Sie sind zu weit entfernt», sagte er enttäuscht. «Lass sie ein bisschen näher kommen. Geh härter an den Wind.»
    «Aber Kapitän», wandte ich ein, «sie haben keine Chance, uns einzuholen. Gab es nicht schon genug Blutvergießen?»
    Er musterte mich von oben bis unten.
    «Wir werden angegriffen, und wir verteidigen uns. Das ist alles.»
    «Aber im Augenblick werden wir nicht angegriffen. Und wenn wir Kurs halten, wird es auch nicht dazu kommen.»
    «Geh härter ran!»
    Meine Hände am Ruder zögerten noch immer. Er trat dicht an mich heran, die kleinen Augen aufgerissen vor Wut.
    «Mr. Madsen, ich bin der Kapitän an Bord der Flying Scud, und ich habe Ihnen gerade einen Befehl erteilt. Wenn es dem jungen Herrn nicht behagt zu gehorchen, ist er als Meuterer anzusehen, und mit Meuterern mache ich kurzen Prozess.»
    Er hielt mir den Gewehrlauf vors Gesicht, und einen Augenblick starrten wir uns gegenseitig in die Augen. Es war nicht sein Blick und auch nicht die bedrohliche Nähe des Gewehrlaufs, die mich seinem Befehl gehorchen ließ. Die Waffe zitterte in seinen Händen, und ich begriff, dass seine Wut vollkommen außer Kontrolle geraten war, obwohl seine Stimme ruhig blieb. Das Gewehr konnte jeden Moment losgehen. Es war eine Wut, die nicht nur meinem Zögern oder den Eingeborenen galt, die seine Pläne vereitelt hatten. Sein Zorn galt der ganzen Welt, und ob es sich dabei um Eingeborene oder mich handelte, der dafür zu büßen hatte, war ihm egal.
    «Jawohl, Kapitän», sagte ich und drehte am Ruder.
    Er senkte das Gewehr und ging zurück zum Achtersteven. Das Schiff
drosselte seine Fahrt, bis wir ganz ruhig mit schlagenden Segeln in der Brise lagen. Das Kanu der Eingeborenen kam näher. Jack Lewis legte an und erschoss einen nach dem anderen. Bei jedem Treffer gab er ein kleines zufriedenes Grunzen von sich.
    Das Kanu wurde weiter in schneller Fahrt gepaddelt. Die Eingeborenen standen nacheinander mit einem Gewehr in der Hand auf, zielten, schossen – und empfingen ihr eigenes Todesurteil.
    Schließlich gab es nur noch einen Überlebenden. Er paddelte weiter auf uns zu. Jack Lewis stellte sein Feuer ein. Er dachte nach. Ich sah, dass sein Zorn verraucht war.
    «Lass ihn», sagte ich, «jetzt ist es genug.»
    Er blickte auf und schenkte mir ein müdes Lächeln. In diesem Moment lag eine seltsame Milde in seiner Miene, wie bei einem erwachenden Kind.
    «Du hast recht», sagte er. «Jetzt ist es genug.»
    Er stellte sich neben mich.
    «Jawohl, Kapitän, korrekter Kurs.»
     
    Der Wind blähte die Segel, und wir nahmen wieder Fahrt auf. Eine ganze Weile sagte niemand von uns ein Wort. Ich war dem Tod entronnen, doch nur, damit derselbe Mann mein Leben bedrohte, der mich kurz zuvor noch gerettet hatte. Nun stand er neben mir und tat so, als wäre überhaupt nichts geschehen.
    «Herrliches Wetter», sagte er plötzlich und atmete tief durch. «Seeluft! Es gibt nichts Besseres. Das macht das Leben eines Seemanns lebenswert.»
    Von all den Dingen, die ich Jack Lewis in den Monaten, die wir zusammen verbrachten, sagen hörte, war diese alltägliche Bemerkung die rätselhafteste. Ich glaubte nicht eine Sekunde daran, dass er meinte, was er sagte, und doch stimmten mich seine Worte froh. Mir war, als hätte sich das Entsetzen, das ich in den letzten Stunden empfunden hatte, ein wenig abgemildert und wir wären nicht mehr nur ein Kapitän und ein Steuermann auf dem Weg über den Ozean.
    «Ja», erwiderte ich, ahmte Jack Lewis nach und atmete ebenfalls tief durch, «Seeluft tut gut.»

     
    Wir wurden in unserem neu erstandenen Idyll von einem der Kanaken unterbrochen, der aufgeregt achteraus zeigte. Da tauchte er wieder auf, der einsame Eingeborene in seinem Kanu, eine schwarze Silhouette gegen das in der Sonne glitzernde Kielwasser. Er war nicht sehr weit entfernt. Wie er es geschafft hatte, uns einzuholen, allein in einem Kanu, das auf weit mehr Paddler ausgelegt war, schien vollkommen unbegreiflich.
    Wir beobachteten ihn lange. Der Abstand zwischen uns blieb einigermaßen konstant. Ich blickte Jack Lewis verstohlen an, sagte aber nichts. Ich wartete darauf, dass er wieder zum Gewehr greifen und dem Leben ein Ende bereiten würde, das er in einem Augenblick guten Willens verschont hatte. Er tat jedoch nichts.
    Nach einer Weile wandte er sich

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