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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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die Tiefe an. Sie starben nicht vor den eigenen Augen. Sie verschwanden nur aus dem Blickfeld.
    Nun sollte Jack Lewis sterben. Ich war davon überzeugt und begriff, dass er in diesem Augenblick an Deck lag wie die Statue eines Gottes, die man von ihrem Sockel gestürzt hatte. Die Statue würde zerbrechen und ein nackter Mensch zum Vorschein kommen. Er war James Cook in der Kealakekuabucht. Er blutete aus seiner Wunde, und gleich würde er die gleiche Dummheit begehen wie Cook.
    Jack Lewis starrte mich an, und ich musste mir eingestehen, dass ich mich geirrt hatte. Jack Lewis war ein gestürzter Gott, aber noch immer ein Gott. Es lag keinerlei Furcht in seinem Blick, und ich wusste nicht, wieso ich geglaubt hatte, dass ich sie darin finden würde. Wieso gab es keine Trauer über all das, wovon er Abschied nehmen musste, oder Ärger über die Ziele, die er trotz allem nicht erreicht hatte? Oder einfach Wut?
    Ich hatte gesehen, wie er die Beherrschung verlor, als er gezwungen war, seine kostbaren Perlen anstelle von Kugeln zu benutzen. Würde er nicht so auch seinen Tod sehen? Als die Vergeudung einer Perle?
    Ich war jung und hatte nie einen Gedanken an den Tod verschwendet. Sind die Gefühle, die bei dem Sinnieren über den Tod geweckt werden, überhaupt wahre Vorahnungen der tatsächlichen Gefühle, die man hat, wenn es so weit ist?
    Nun sollte ich es erleben.
    «Hol den Whisky.»

    Er musste zwischen den einzelnen Worten schlucken, doch noch immer besaß Jack Lewis’ Stimme ihre alte Autorität.
    Mit einer kraftlosen Hand klopfte er auf das Deck, als würde er mich auf einen letzten Drink in seine Kajüte einladen.
    «Und Jim.»
    Ich starrte ihn an.
    «Bist du taub?»
    Verwirrt schüttelte ich den Kopf und ging in die Kajüte, um seinen Befehl auszuführen. Ich holte den fürchterlichen Kopf aus dem Beutel und stellte ihn neben Jack Lewis. Dann öffnete ich den Whisky und goss einen Schluck in meine Hand. Ich hatte noch nie eine Schusswunde behandelt, hatte aber doch die eine oder andere vage Idee, dass die Wunde mit Alkohol gereinigt werden müsse.
    «Was machst du denn da?», knurrte Jack Lewis.
    «Ich will die Wunde reinigen.»
    «Die Wunde?», stieß er aus. «Es geht nicht um meine Wunde, es geht um mich. Ich bin durstig. Hol zwei Gläser.»
    Als ich mit den Gläsern zurückkehrte, starrte Jack Lewis Jim mit einem prüfenden Blick an, als hätte er ihm gerade eine Frage gestellt und wartete nun auf die Antwort.
    Die Kanaken standen wie angewurzelt mitten auf Deck. Auch der Rudergänger hatte das Rad verlassen. Ich brüllte einen Befehl, und er kehrte an seinen Platz zurück. Aber er drehte sich ständig um. Es war nicht der sterbende Kapitän, den er mit seinem Blick suchte, sondern der Kopf in dessen Händen.
    «Ist das hier vernünftig?», fragte ich Jack Lewis.
    «Da hast du dich nicht einzumischen.» Seine Stimme war blanker Hohn. «Natürlich ist es nicht klug, einem Haufen von Kannibalen, deren Blutdurst gerade erst geweckt ist, einen Schrumpfkopf zu zeigen. Aber es dauert nicht mehr lange, bis ich verschwunden bin, und dann ist das dein Problem, nicht meins.»
    Es gurgelte in seinem Brustkasten, und er fletschte die Zähne zu einer Grimasse, die vielleicht ein Lächeln darstellen sollte.
    «Schenk jetzt die Gläser ein. Dann lass uns auf die weitere Reise anstoßen. Meine führt ins Unbekannte. Dich wird sie zum frischgebackenen Kapitän eines Kannibalenschiffs machen.»

    Ich goss ein und reichte ihm den Whisky, aber er hatte nicht mehr die Kraft, das Glas zu heben. Ich musste seinen Kopf stützen und ihm das Glas zum Mund führen. Er leerte den Inhalt mit einem Stöhnen; ob aus Wohlbehagen oder vor Schmerzen, konnte ich nicht sagen.
    «Die freien Männer», drängte ich ihn, «du musst mir von den freien Männern erzählen.»
    «Die freien Männer waren genau wie Jim hier.»
    «Also Handelsware?»
    «Ja», antwortete Jack Lewis, und seine Augen bekam einen abwesenden Ausdruck, so als interessierte ihn das Gespräch nicht, als hätte seine Reise ins Unbekannte bereits begonnen.
    Ich spürte, dass es schnell gehen musste.
    «Aber, worum ging’s bei dem Handel?»
    «Sandkörner», flüsterte er, «Steinchen. Spielzeug für Kinder.»
    Sein Kopf sank zur Seite, und er schloss die Augen, als schliefe er ein. Einen Moment hatte ich Angst, er sei tot. Dann öffnete er die Augen wieder und sah mich an.
    «Wir verachten die Eingeborenen, weil sie sich von Glasmurmeln beeindrucken lassen. Ich weiß nicht, was

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