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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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sondern mit mehreren, und jeder Schuss, der traf, wurde von einem triumphierenden Ausruf begleitet.
    «Der ist für dich, du Teufel!»
    Er spuckte verächtlich über die Reling.
    Ich musste das Ruder übernehmen. In seinem Blutrausch verschwendete der Kapitän keinen Gedanken daran. Es war an mir, uns durch die Lücke des Riffs aus der Lagune zu manövrieren. Dass es mir gelang, hatte nichts mit Seemannschaft zu tun. Es war eine Frage des Windes und der Gezeiten, und beide waren uns gewogen. Es hatte aufgefrischt, und unsere Segel waren straff gebläht, noch bevor die Lagune hinter uns lag. Es herrschte ablaufendes Wasser, und die Strömung floss durch die Öffnung im Riff. Ein Gläubiger hätte von der helfenden Hand Gottes gesprochen, aber da ich nicht glaube, dass der Herrgott, wenn es ihn denn gibt, auf Jack Lewis’ Seite gewesen wäre, gebe ich mich damit zufrieden zu behaupten, dass die Naturgesetze in einem glücklichen Moment Wasser und Wind geboten, uns beizustehen.
    Aber ein Gefühl, dass uns irgendetwas im letzten Augenblick auf wundersame Weise half, hat mich nie verlassen, obwohl ich nicht weiß, für wen es schlimmer gekommen wäre, wenn der Wind und die Strömung beschlossen hätten, die Flying Scud in der Lagune einzuschließen: für uns oder die Eingeborenen. Es waren viele, doch Jack Lewis’ Treffsicherheit war mit einem Wort, das seiner Eitelkeit zweifellos geschmeichelt hätte, dämonisch.
    In rascher Fahrt schossen wir am Wrack der Morning Star vorbei. Jack Lewis legte bei den Eingeborenen eine Pause ein und richtete sein Gewehr auf das Wrack. Es ertönte ein lauter Knall, und ich verfolgte, wie das Gesicht der Galionsfigur am Bug des Schiffs in einer Wolke von Splittern verschwand. Es war eine Wut in ihm, die sich nicht mit dem Blut der Eingeborenen begnügen wollte, und ich spürte, dass die Gefahr noch nicht vorüber war, sondern lediglich ihren Standort gewechselt hatte und sich nun bei uns an Bord befand.

    Wir befanden uns auf hoher See, und es hätte an der Zeit sein können, erleichtert aufzuatmen, wäre da nicht dieser Wahnsinn gewesen, den ich in Jack Lewis’ Gesicht gesehen hatte. Er war aus seiner Position an der Bordwand aufgestanden und hatte sein Gewehr beiseite gelegt. Dann begann er an Deck auf und ab zu gehen, während er die ganze Zeit vor sich hin murmelte.
    «Alles zerstört … wer im Namen der Hölle … könnte ich den verdammten Satan bloß ausfindig machen.»
    Er warf mir einen boshaften Blick zu, als würde auch ich eines Verbrechens verdächtigt, von dessen Natur ich nicht einmal eine Ahnung hatte. Seine Pläne, welcher Art auch immer, waren hintertrieben worden. Er schuldete mir eine Erklärung für den Albtraum, den wir gerade erlebt hatten. Mir war allerdings klar, dass jetzt der falsche Zeitpunkt war, ihn danach zu fragen, und dass der richtige sich bestimmt niemals ergeben würde, wenn mir mein Leben lieb war.
    Ich beobachtete ihn aus den Augenwinkeln, und nicht ohne eine gewisse Furcht achtete ich auf seine Miene, die den Strom von Verwünschungen begleitete. Daher war ich vollkommen überrascht, als sich auf seinem Gesicht plötzlich ein Lächeln ausbreitete.
    «Na, da soll mich doch …», rief er aus, als hätte er gerade einen lang vermissten Freund entdeckt und wollte ihn mit offenen Armen willkommen heißen.
    Ich drehte mich um, um herauszufinden, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte, und dort, achteraus, etwa eine halbe Kabellänge entfernt, tanzte das Kanu der Eingeborenen in unserem in der Sonne glitzernden Kielwasser. Ich wollte meinen Augen nicht trauen. Welche Hoffnungen machten sie sich wohl, uns zu besiegen?
    Ich sah, wie verbissen sie mit ihren Paddeln arbeiteten. Alle hatten sich hingesetzt, niemand stand mehr, um mit einem Gewehr auf uns zu zielen. Sie waren vielleicht noch zu siebt oder acht und wollten sichergehen, ihr Ziel zu treffen, bevor sie den Kampf wieder aufnahmen. Möglicherweisen planten sie sogar, uns zu entern. Hatten sie denn gar nichts gelernt?
    Nicht einen Augenblick fürchtete ich einen Angriff von ihnen. In ihrem naiven Unverstand taten sie mir nur leid. Mir ging durch den Kopf, dass sie ja nicht nur mit dem Tod spielten, nein, sie luden ihn geradezu
zu sich ein. Ich erkannte darin einen großen Unterschied und empfand eine maßlose Trauer über ihr Verhalten.
    Es waren wahrlich nicht die Eingeborenen und ihr selbstmörderisches Verhalten, die ich fürchtete, sondern Jack Lewis’ wiedererwachte Mordlust.
    «Welch

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