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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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wieder dem Ruder zu und gab mir den Befehl, den Kurs zu korrigieren. Hin und wieder drehte ich mich um und hielt Ausschau nach achtern. Der Eingeborene war noch immer da. Der Abstand veränderte sich nicht. Er holte nicht zu uns auf, allerdings blieb er auch nicht zurück.
    So vergingen einige Stunden. Während ich ihn im Auge behielt, änderte sich meine Meinung über unseren Verfolger. Ich sah einen Menschen allein in einem Kanu auf dem Meer. Er hörte auf, ein Eingeborener zu sein, ein Mitglied eines wilden Stammes, der uns vor nicht allzu langer Zeit angegriffen hatte. Ich wusste nicht mehr, wer er war oder was er von uns wollte, ob er ein Verfolger war oder ein Mensch in Not. Ich sah nur das unendliche Meer und seine verlorene Gestalt mittendrin. Ich spürte, dass er ein Bote sein musste, doch was wollte er uns erzählen?
    «Das muss jetzt ein Ende haben», sagte Jack Lewis schließlich.
    Mir war klar, dass ich nichts tun konnte.
    Er ging zu seinem Gewehr und hob es auf. Ich sah ihm nicht dabei zu, starrte nur auf den einsamen Paddler mitten auf dem Meer, als wollte ich in diesen Minuten, die ihm noch blieben, Abschied von ihm nehmen und dafür sorgen, dass ich ihn nicht vergaß. Meine Erinnerung würde der einzige Grabstein sein, den er bekam.
    Er musste gesehen haben, wie Jack Lewis seine Winchester auf ihn richtete, denn plötzlich stand er auf und riss sich sein Gewehr an die Schulter. Jack Lewis’ Gewehr entlud sich mit einem Knall, im selben Moment schoss ein Feuerblitz aus der Mündung des Eingeborenengewehres.
Sie hatten gleichzeitig gefeuert. Dann stürzte unser Verfolger rückwärts ins Kanu und blieb liegen. Das Kanu drehte im Kielwasser querab und schaukelte auf den Wellen. Der Abstand vergrößerte sich rasch. Das Kanu mit dem Toten würde bald außer Sicht sein.
    Ich war so von dem Schicksal des Eingeborenen in Anspruch genommen, dass ich überhaupt nicht bemerkt hatte, was auf Deck der Flying Scud vor sich ging. Nun hörte ich ein lautes Stöhnen von Jack Lewis, und als ich mich umdrehte, sah ich ihn ausgestreckt am Boden liegen. Auf seinem Hemd breitete sich ein roter Fleck aus. Auch die Kugel des Eingeborenen hatte ihr Ziel gefunden.
     
    Die Kanaken knieten mit fragendem Gesichtsausdruck um ihren Kapitän, als erwarteten sie einen Befehl. Begriffen sie nicht, dass Jack Lewis hier vor ihren Augen im Sterben lag?
    Einen Augenblick kam mir der Gedanke, dass sie ihn möglicherweise für unsterblich hielten, weil seine Handlungen von der gleichen unberechenbaren Grausamkeit bestimmt waren wie die ihrer Götter. Er hatte einem von ihnen ein Ohr abgeschnitten, und ich hatte nie etwas anderes als seinen Befehlston gehört, wenn er sie ansprach. Sie stellten lediglich Figuren in einem Spiel dar, das sie nicht betraf, aber dennoch ihr Leben forderte. Er opferte sie ohne jede Erklärung, warum also sollten sie ihn nicht für einen Gott halten?
    Handelte eine Gottheit denn nicht genauso? Mit einer Unergründlichkeit, die von Willkür nicht zu unterscheiden war? Die Gläubigen beteten und opferten vielleicht. Doch bisher hatte noch kein Gläubiger eine Möglichkeit gefunden sicherzustellen, dass seine Gebete in Erfüllung gingen.
    Als ich Jack Lewis auf Deck liegen sah und der Blutfleck auf seinem Hemd sich ausbreitete, wurde mir klar, dass er auch für mich zu einem Gott geworden war. Er hatte versprochen, mich zu meinem papa tru zu bringen. Stattdessen hatte er mich jedoch auf eine Reise mit einem Laderaum voller Menschen mitgenommen, von denen er behauptete, sie seien frei; bis zu einer unbekannten Insel, auf der ich Zeuge einer rätselhaften Transaktion und eines Massakers geworden war.
    Ich segelte mit ihm, um ein Geheimnis zu lüften, doch gefunden hatte ich lediglich ein weiteres.

    Ich schien für ihn nur einer mehr von seinen Kanaken zu sein. Aber ich war ein Weißer und der Ansicht, dass er mir eine Lösung des Rätsels schuldete. Nun würde er sterben, und ich wollte eine Erklärung, bevor es zu spät war.
     
    Ich gab einem der Kanaken den Befehl, das Ruder zu übernehmen, und ging zu Jack Lewis. Ich hatte niemals einen Menschen sterben sehen wie mein papa tru, der im Krieg gewesen war und erlebt hatte, wie die Menschen um ihn herum zusammengeschossen wurden, während die Christian VIII. ihren Untergang erwartete. Ich hatte Männer über Bord gehen und im Meer verschwinden sehen, aber das war etwas anderes. Sie versanken in den Wellen und traten dort, bereits unsichtbar, ihre einsame Reise in

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