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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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durchaus ohne ihn auskommen konnte?
    Ich sah ein, dass ich nie länger als bis zu dem Augenblick gedacht hatte, an dem ich ihm Aug’ in Aug’ gegenüberstehen würde. Ich war ein voll befahrener Seemann. Ich hatte die großen Ozeane überquert, aber in diesem Moment spürte ich, dass ich noch immer ein Neuling in der Welt war – nicht weil ich ihre hektischen, überfüllten Hafenstädte, ihre palmengesäumten Küsten oder ihre windgepeitschten Klippen nicht kennen würde, sondern weil ich noch immer so unendlich wenig über meine eigene Seele wusste. Ich konnte nach der Seekarte navigieren. Ich konnte meine Position mit Hilfe eines Sextanten bestimmen. Ich befand mich an einer unbekannten Stelle im Stillen Ozean auf einem Schiff ohne Kapitän und war noch immer imstande, den Kurs zu finden. Aber ich hatte weder eine Karte über mein eigenes Inneres noch irgendeinen Kurs für mein Leben.
     
    Ich räumte die Flaschen aus Jack Lewis’ Schrank und ging an Deck, um sie über Bord zu werfen. Ich öffnete keine von ihnen, bevor ich sie ins
Wasser warf, auch nicht die mystische Flasche mit dem weißen Inhalt, in dem sich hin und wieder der Umriss einer schwarzen Figur erahnen ließ. Ich hatte inzwischen gelernt, dass die Türen, die Jack Lewis mir aufstieß, nur in neue, mit Schrecken gefüllte Räume führten. Ich sah, wie die Flaschen achteraus glitten und zwischen den Wellen verschwanden.
    Ich wusste, ich hätte stattdessen Jim über Bord werfen sollen. Doch Jim leistete mir auch weiterhin Gesellschaft. Wie die Perlen.
     
    So vergingen die Tage. Ich phantasierte über meine Zukunft. Mal sah ich die Perlen als unerwartete Chance, dann wieder als einen Fluch, der mich, sollte ich sie je verkaufen, an Jack Lewis’ Verbrechen mitschuldig werden ließ.
    Währenddessen hielten wir auf Samoa zu.
    Solange Jim mir nicht antwortete, hatte ich das Gefühl, dass ich noch immer frei und noch nichts entschieden war. Ich hatte die Zeit angehalten und ertappte mich bei dem Wunsch, für immer in dieser ahnungsvollen Traumwelt bleiben zu können, die ich mir in der schummrigen Kajüte zusammen mit Jim erschaffen hatte.
    Ich vergaß, wo ich war. Ich lebte in einer Welt, in der sich die Wünsche erfüllten und es nie einen Preis dafür zu zahlen galt.
    Die meisten Stunden des Tages verbrachte ich allein, aber die Einsamkeit war keine sonderliche Last. Ich nahm meine Mahlzeiten in der Kajüte ein, während die Kanaken auf Deck aßen. Sie bereiteten das Essen. Es gab Reis und gedünstete Tarowurzeln, und ab und zu warfen sie eine Schnur über Bord und fingen einen Gelbflossen-Thunfisch.
    Ich zeigte mich nur auf Deck, um den Kurs zu korrigieren und die Segelführung zu justieren.
    Nach einer Woche erstarb der Passat. Er verschwand eines Abends zusammen mit der Sonne, die wie eine rote Kugel hinter dem Horizont versank, während sich ein Wolkenfächer nach allen Seiten ausbreitete.
    Ich nahm es als schlechtes Omen und stellte mich auf einen Orkan ein. Doch als der Tag graute, erwartete mich ein ganz anderer Anblick. Eine vollkommene Windstille lag wie eine bleierne Decke über der See. Es war schwülwarm, als wäre ein Gewitter im Anzug. Aber der Himmel sah so blau aus wie eine Gasflamme, und nicht eine bedrohliche Wolke zeigte sich am Horizont.

    Ich ging davon aus, dass irgendetwas geschehen würde, doch meine Phantasie reichte nicht weiter als bis zu den gleichen Vorahnungen wie am Abend zuvor. Ich war weiterhin überzeugt, dass ein Orkan heraufzog.
    Der Tag verging, und wir kamen nicht von der Stelle. Die Segel hingen schlaff herunter, und wir spannten mittschiffs ein Sonnensegel auf. Ich musste mich für eine Weile von Jim verabschieden. Es war zu warm, um sich in der stinkenden Luft der Kajüte aufzuhalten. An Deck bringen wollte ich ihn nicht. Konnte ich die Perlen unten lassen?
    Meine düsteren Vorahnungen aus den dunklen Tagen in der Kajüte bewahrheiteten sich nun. Ich fing an, den Lederbeutel, der meine ganze Zukunft enthielt, unter dem Hemd direkt auf der nackten Brust zu tragen. Aber auch das musste ich aufgeben. Das Hemd klebte mir in der Hitze am Körper. Mir war, als hätte ich eine Gazebinde vor dem Mund, durch die ich nur mit Schwierigkeiten atmen konnte. Schließlich schloss ich die Perlen zusammen mit Jim in der Kajüte ein und lief mit freiem Oberkörper herum. Hin und wieder warf ich die Pütz über die Bordwand und übergoss mich mit lauwarmem Meerwasser, aber weder das Wasser noch der Anbruch der Dunkelheit

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