Wir Ertrunkenen
gewähren würde und ein Thunfisch auf Deck landete.
Unser größtes Problem war das Wasser. Wir hatten uns in der Lagune nicht ausreichend mit neuen Vorräten versorgt. Nun war es so gut wie aufgebraucht. Ein Regenschauer hätte das Problem gelöst, doch der Himmel war gnadenlos blau und ließ keinerlei Hoffnung aufkommen, dass er unseren Durst löschen würde. Ich musste das Wasser rationieren und fürchtete, damit einen Aufstand heraufzubeschwören. Ich beschloss daher, dass wir von nun an unsere Mahlzeiten gemeinsam an Deck einnahmen, damit die Kanaken sahen, dass alle den gleichen Anteil Wasser bekamen.
Wir waren nicht gleichgestellt und sollten es auch nicht sein. Das erforderten die geschriebenen wie die ungeschriebenen Gesetze des Schiffes. Aber wir mussten die gleichen Leiden ertragen. Sonst würden wir sie niemals zusammen durchstehen. Mir wurde allmählich klar, dass diese Windstille für einen frischgebackenen Kapitän eine größere Herausforderung war als jeder Sturm.
Wir warfen jeden Tag unsere Schnüre aus, doch wir fingen nicht einen Fisch. Die Fische schienen unser Schiff zu meiden, und ich sah, wie die Fragezeichen in den Gesichtern der erfahrenen Kanaken, die ihr ganzes Leben in diesen Gewässern zugebracht hatten, größer wurden. Mitten auf dem Meer und kein Fisch, nicht ein einziger!
Hatte uns ein Fluch getroffen?
Nach jeder Mahlzeit teilte ich einen Becher Wasser aus. Wenn ich mich über den Rand des letzten Fasses lehnte, sah ich, dass der Boden näher kam und das Wasser höchstens noch für ein paar Tage reichte. Unsere einzige Hoffnung war, dass der Passat wieder zu wehen begann und mit dem Wind Regen kam.
Am siebten Tag war das Wasser verbraucht. Aus der Hängematte, in der der verwundete Kanake im Fieber lag, klang ein leises Klagen. Für seine aufgesprungenen Lippen gab es nun keine Linderung mehr. Er rollte mit den Augen, als suchte er nach einem Ausweg in der Takelage. Dann fielen ihm die Augen zu, doch sein Jammern hielt an. Es war das einzige Geräusch, das die Stille an Bord durchbrach, gleichermaßen Lebenszeichen und Vorbote des Schicksals, das uns erwartete.
Es war der zweite Tag nach der Ausgabe des letzten Wassers. Wir saßen über unsere Tarowurzeln, die wir mit Meerwasser gekocht hatten, als einer der Kanaken plötzlich zum Horizont zeigte. Ich blickte auf und entdeckte eine Wolke. Sie hing niedrig über dem Wasser und bewegte sich seltsam hastig, wie Dampf, der von einem kochenden Topf aufsteigt. Im Gegensatz zum Dampf bewegte sie sich allerdings nicht aufwärts, sondern in alle Richtungen auf einmal, und mir fielen die Schwärme von Staren ein, die sich im Herbst über den Feldern vor Marstal sammelten, um nach Süden zu ziehen. Das Sonnenlicht schimmerte durch die Wolke, die sich langsam näherte, obgleich es noch immer windstill war. Sie schien zu pulsieren, als ob im Inneren eines dicht bewachsenen Waldes ein verborgener Wirbelwind mit dem Laub raschelte.
Dann war die Wolke über uns, und ich dachte noch, es sei tatsächlich wie ein Herbstwald, der seine welken Blätter über uns schüttelte, bevor
mir klar wurde, dass es sich nicht um totes Laub, sondern um lebendige Wesen handelte, die um uns aufstiegen und niedersanken, wobei sie mit hauchdünnen und mit Mustern in allen Farben geschmückten Flügeln schlugen. Wir waren mitten in einen ungeheuren Schwarm Schmetterlinge geraten.
Es mussten Millionen sein. Ein Sturm fern der despotischen Windstille, die uns in ihrem Griff hielt, hatte sie von einer Insel gefegt und weit hinaus aufs Meer getragen. Nun suchten sie nach Land und dachten, sie hätten es in unserem vom Tod gezeichneten Schiff gefunden. Erschöpft ließen sie sich überall nieder, im Rigg und auf jedem der unzähligen Taue des Schiffs. Sie landeten übereinander in den schlaff herunterhängenden Segeln, bis sie diese Segel wie einen lustig gefärbten Gobelin bedeckten. Binnen weniger Minuten war das Schiff bis zur Unkenntlichkeit von dieser lebenden, atmenden Masse bedeckt, die sich ermüdet die Flying Scud zur Rast ausgesucht hatte.
Auch auf uns stürzten sich die Schmetterlinge, als ob sie nicht unterschieden zwischen totem Holz, Tauwerk, Segeltuch und unserer Haut. Uns wurde klar, dass sie ebenso Durst litten wie wir. Überall stachen sie uns mit ihren kleinen Saugrüsseln, um ein wenig Feuchtigkeit auf unserer schweißnassen Haut zu finden. Es waren keine schmerzhaften Stiche wie bei einer Biene oder ein Brennen wie nach einem Mückenstich.
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