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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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nichts.
    War dies der Beginn der Kealakekuabucht? Würde das Schicksal, dem Jack Lewis entkommen war, nun mich ereilen? Würden sie mich in kleine Stücke reißen, mein Herz essen und meinen Kopf über dem Feuer räuchern?
    Ich wäre gern in die Kajüte gegangen, um mir über meine Situation Gedanken zu machen, doch ich spürte, dass ich nicht wieder nach oben kommen würde, wenn ich mich erst einmal in ihrer schützenden Dunkelheit befand, aus Furcht, sie könnten draußen vor der Tür mit gezückten Messern auf mich warten.
    So übernahm ich das Ruder.

    Ich begriff, dass ich zunächst einmal die Angst vor den Kanaken überwinden musste, die Jack Lewis mir so geschickt eingepflanzt hatte. Solange
ich diese Furcht in mir hatte, war er noch an Bord und bestimmte über mich. Ich musste meine Befehle erteilen und erwarten können, dass sie ausgeführt wurden. Ich musste in meine Kajüte gehen und wieder herauskommen können, ohne einen Hinterhalt zu befürchten. Und ich musste mich in der sicheren Überzeugung schlafen legen, dass ich auch wieder aufwachen würde.
    Kurz gesagt, ich hatte das zu tun, was Männer an Bord von Schiffen schon Tausende von Jahren taten. Ich musste der Kapitän sein.
    Aber ich war jung und hatte noch nie zuvor das Kommando über ein Schiff gehabt. Ich befand mich allein mit vier Kanaken, von denen einer nicht einsatzfähig war, inmitten des Stillen Ozeans und wusste sehr wenig über das Ziel, das wir anliefen. Außerdem wurde mir klar, dass meine Probleme nicht bewältigt wären, selbst wenn ich die Flying Scud sicher in einen Hafen brachte. Wer würde meiner Geschichte glauben?
    Ich steckte mitten in meinen Überlegungen, als mein Blick auf Deck fiel. James Cooks Kopf lag noch immer an der Stelle, an der Jack Lewis ihn abgelegt hatte, als er von ihm Abschied nahm. Ich riss mich zusammen und befahl einem der Kanaken mit fester Stimme, das Ruder zu übernehmen. Dann hob ich den Schrumpfkopf auf, trug ihn zurück in die Kajüte und legte ihn in Jack Lewis’ Koje.
    Ich kann nicht erklären, warum ich den Kopf nicht sofort über Bord warf. Ich wollte ihn weder behalten noch ihn je wieder vor Augen haben, aber irgendetwas hielt mich zurück, als ich über das Meer schaute, in dem sich die Sonne spiegelte. Ich hatte den Kopf für Jack Lewis aus dem Beutel geholt, als er mich bat, einen letzten Blick auf ihn werfen zu dürfen; sein bevorstehender Tod hatte mich mehr beschäftigt als Jim. Ich hatte nicht daran gedacht, dass ich plötzlich die abscheuerregenden Reste von etwas in den Händen hielt, das einmal ein Mensch gewesen war.
    Nun fühlte ich die ledrige Haut und das strohtrockene Haar des Kopfes. Die Berührung schien eine Botschaft über den Menschen zu enthalten, der James Cook gewesen war, bevor er in ein Symbol der Barbarei verwandelt wurde. Ich konnte den toten Körper des Kapitäns über die Reling werfen, mit James Cook konnte ich nicht das gleiche tun.
    Nicht weil Jack Lewis mir verraten hatte, wer Jim war. Glaubte ich es? Ja und nein. Im Grunde genommen war es auch gleichgültig, ob ich
daran glaubte oder nicht. Für mich gab es keine wirkliche Wahrheit. Wenn es James Cook war, müsste der Kopf wohl nach England geschickt werden. Ich wusste nicht, was sie dort mit ihm machen würden. Möglicherweise verschwiegen sie seine Existenz, weil die ganze Geschichte ihnen auf die eine oder andere Art peinlich war. Oder er wurde zeremoniell bestattet. Möglicherweise bekam James Cooks Kopf sogar einen eigenen Sarg. Doch wie oft kann man einen Menschen begraben? Was, wenn eines Tages ein Fuß auftauchte? Musste das ganze Begräbnis dann noch einmal wiederholt werden?
    Der Name Jim war mir zunächst wie ein boshafter Witz vorgekommen. Nun war es so, als würde James Cook selbst zu einem Teil des Witzes, und ich dachte, es wäre besser, ihn in Frieden ruhen zu lassen. Allerdings gab es noch den Kopf, das Letzte, was von einem Mann übrig geblieben war, der einen ziemlich furchtbaren Tod erlitten hatte. Ich konnte ihn nicht einfach über Bord werfen wie einen kaputten Gegenstand oder ein Stück Fleisch, das anfing zu stinken.
    Das war der Moment, an dem ich den Unterschied zwischen Jack Lewis und mir begriff. Für Lewis war «Jim» der Name eines Schrumpfkopfs, für mich jedoch der Name eines Menschen.
     
    Ich habe seither oft daran gedacht, ob Jim für mich mehr Mensch war, als es die Kanaken je wurden. Durch die blaue Tätowierung, die ihre Gesichtshaut vollständig bedeckte, verlor sich nicht

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