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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Doch ihr Angriff führte schon bald zu einem unerträglichen Jucken und Kribbeln, das uns schier in den Wahnsinn trieb. Wenn wir einen Moment nicht aufpassten, hockten die Schmetterlinge übereinander auf uns, in der Feuchtigkeit der Mundwinkel und Augen, die wir schließen mussten, um uns zu schützen. Öffneten wir den Mund, um sie mit Wutgebrüll zu verjagen, hingen sie bereits zwischen den Zähnen und saßen dicht gedrängt auf der Zunge, wobei sie mit ihren Flügeln den Gaumen kitzelten.
    Geblendet und hustend taumelten wir umher und schlugen in die leere Luft. Die Schmetterlinge betrachteten uns offenbar als ihre letzte Chance. Nichts konnte sie aufhalten. Ohne Zögern flogen sie ihrem Untergang entgegen. Wir erschlugen sie an unserer Wange, an unserer Stirn und an den Augenbrauen. Ich glaube, wir wären letztlich alle wahnsinnig geworden und ins Wasser gesprungen, nur um ihnen zu entrinnen, doch auch das Wasser um das Schiff herum war von Schmetterlingen bedeckt.
Die Flying Scud stand wie ein Sarg auf einem blumengeschmückten Kirchboden.
     
    Als ich hastig ein Auge öffnete, um zur Reling zu finden, sah ich einen meiner Leidensgenossen, dessen blau tätowiertes Gesicht und Schädel von Schmetterlingen halb bedeckt waren. Ich verlor das Gespür für die Gefahr, in der wir uns befanden, und war hingerissen von dem Anblick, der sich mir bot: der hübsch gerundete blaue Schädel, auf dem zitronengelbe Schmetterlinge sich niedergelassen hatten und mit leicht ausgebreiteten Flügeln flatterten. Die dunklen Augen, die hinter den Fächern der Flügel hervorstarrten.
    Im Gegensatz zu mir schien der Kanake ganz ruhig zu sein. Aber ob es nur daran lag, dass er sich resigniert seinem Schicksal überlassen hatte, habe ich nie erfahren. Denn im nächsten Moment traf ein Schwall Wasser mein Gesicht. Einer der Kanaken hatte geistesgegenwärtig eine Schlagpütz ins Wasser gelassen und übergoss nun sich selbst und uns mit Wasser. Sofort folgten wir seinem Beispiel und konnten uns so von den Schmetterlingsschwärmen befreien.
    Doch der Kampf war noch nicht vorbei. Noch eine ganze Weile versuchten die Schmetterlinge auf ihrer Jagd nach Feuchtigkeit auf unseren Gesichtern und nackten Oberkörpern zu landen. Schließlich gaben sie auf. Erschöpft setzten wir uns aufs Deck, das aus nichts anderem bestand als einer klebrigen Schicht zertretener und ertrunkener Schmetterlinge. Es schien, als würde alles Lebendige an Bord des Schiffs auf dasselbe warten.
     
    Mein Blick fiel auf die Hängematte mit dem verletzten Kanaken. In seiner Erschöpfung war er wehrlos gewesen. Nun lag er lebendig begraben unter einem vibrierenden Berg flatternder, papierdünner Flügel. Wir rannten mit unseren Eimern zu ihm, übergossen ihn mit Wasser und fegten ganze Hände voller Schmetterlinge fort, nicht ahnend, ob er überhaupt noch am Leben war. Aber er hatte das einzig Richtige getan und sein Gesicht mit den Armen geschützt. So fanden wir ihn. Seine Brust hob und senkte sich. Noch atmete er.
    Wir räumten einen Platz für ihn auf Deck frei und legten ihn zwischen uns. Ich holte ein Laken aus der Kajüte und brachte uns anderen Hemden
mit. Auf der Leiter, dem Schott und den Planken in dem kleinen Korridor vor der geschlossenen Tür der Kajüte befanden sich Schichten von Schmetterlingen, wie überall auf dem Schiff. Ich musste sie vom Türgriff fegen, um in die Kajüte zu gelangen, und sofort flogen sie vom Schott auf, um mir in den neuen, noch unerforschten Raum zu folgen. Jim lag mitten auf dem Tisch, so, wie ich ihn hinterlassen hatte. Sie ließen sich in seinem weißen Haar nieder, als hielten sie ihn für lebendig. Es schien, als würden sie ihm mit der Schönheit ihrer Flügel huldigen, obwohl er ein Mensch war, der ihnen nichts geben konnte, dafür aber auch nicht unter ihrer aufdringlichen Nähe litt.
    Ich ließ Jim liegen und kehrte zurück an Deck, wobei ich mich von einer neuen Schicht Schmetterlinge befreite, die sich in der Kajüte auf meinem Gesicht niedergelassen hatten. Dann saßen wir zusammen und zogen all die Hemden an, die ich aus den Schubläden des Kapitäns und meiner eigenen Schiffskiste geholt hatte.
    Wir blieben den Rest des Tages an Deck und schliefen dort in der folgenden Nacht. Die Schmetterlinge bewegten sich nicht mehr. Das Wasser war verbraucht. Auch die Tarowurzeln waren zu Ende.
    Alles auf der Welt schien zusammen mit dem Wind verschwunden zu sein. Es gab nur noch uns und eine Million Schmetterlinge. Der Rest war

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