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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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erlöste mich von der Hitze.
    Ich konnte nachts nicht schlafen und ging wieder an Deck. Die Kanaken hatten ihre Hängematten ins Rigg gehängt und unterhielten sich gedämpft. Zum ersten Mal empfand ich die Einsamkeit als Last. Aber ich dachte, es sei ein Zeichen von Schwäche, wenn ich mich ihnen näherte und versuchte, ein Gespräch zu beginnen.
    Wir hatten das Ruder festgezurrt. Es gab keinen Kurs zu halten, da wir ohnehin nicht von der Stelle kamen. Keine Meeresströmung nahm uns auf ihren Rücken, um uns irgendwohin zu bringen. Ich sah hinauf in den Nachthimmel. Noch immer zeigten sich keine Wolken, nur das Blinken der Sterne war schwächer als sonst, als hätten sie es aufgegeben, uns etwas signalisieren zu wollen.
    Mir wurde klar, wie vollkommen abgeschnitten wir vom Rest der Welt waren. Die Flying Scud war ein aus seiner Bahn gerissener Planet, der sich aufmachte, in den dunkelsten Tiefen des Universums zu verschwinden.
     
    Aus einer der Hängematten erklang ein Stöhnen Ich trat einen Schritt näher. An dem Verband um die Schulter erkannte ich den verletzten
Kanaken. Seine Wunde hatte sich in den letzten Tagen gebessert. Bedeutete sein Klagen, dass das Fieber zurückgekehrt war und sich die Wunde entzündet hatte? Ich wusste, wie eine Entzündung aussah, hatte aber keine Ahnung, wie man sie behandeln musste, außer der primitiven Methode, weiterhin Whisky draufzugießen. Es war zu dunkel, um etwas zu unternehmen, und ich beschloss zu warten, bis es Tag wurde.
    In dieser Nacht schlief ich nicht. Die Hitze hielt mich wach. Ich war unruhig und gereizt. Aber es lag nicht daran, dass unsere Reise durch die unerwartete Windstille unterbrochen worden war. Ich fühlte mich von etwas weitaus Wichtigerem abgeschnitten: von meinen Träumereien in der Kajüte, mit den Perlen in der Hand und Jim auf dem Tisch vor mir. Nur dort spielte sich mein Leben ab, und von ebendiesem Leben war ich ausgeschlossen.
    Am folgenden Tag versorgte ich die Wunde des Kanaken. Auf dem Verband zeigten sich gelbe Flecken. Eiter sickerte aus der Wunde, die sich beinahe geschlossen hatte; nur ihre Ränder waren noch immer rot und geschwollen. Ich säuberte sie so gut wie möglich. Das blaue Gesicht des Kanaken verzog sich nicht, aber jedes Mal, wenn ich die Wunde berührte, zuckte es in seiner Schulter. Dann goss ich Whisky darüber und überließ es seinen Artgenossen, ihm einen sauberen Verband anzulegen.
    Ich wusste, dass auch sie sich an der Wunde zu schaffen machten. Sie hatten ihre eigene Medizin, ich mischte mich da nicht ein. Ich zweifelte ohnehin am Sinn meiner eigenen Methode.
    Durch die Entzündung drängte sich mir das unheimliche Gefühl auf, die stillstehende Luft um uns herum sei vergiftet. Wir befanden uns mitten auf See, und doch empfand ich es, als wären wir im dichtesten Dschungel, von allen Seiten von verfaulenden Pflanzen und giftigen Ammoniakdünsten umgeben.
    Ging es nur mir so, als würde sich eine große Faust auf meine Brust pressen?
    Ich betrachtete die Kanaken. Auch ihre Bewegungen schienen langsamer geworden zu sein. Atmeten sie nicht schwer, als würde diese Windstille, die uns an die große Fläche des Meeres nagelte, wie eine unerträgliche Last auf ihrer Brust liegen? Tauchte nicht ein unruhiges Fragen in den dunklen Augen inmitten der blauen Masken auf? Stieg nicht abergläubisches
Entsetzen wie Blasen aus einem fauligen Schlammgrund an die Oberfläche und verlangte eine Erklärung für diese unheimliche Windstille? Und würden sie nicht bald eine Antwort auf ihre Fragen bekommen, wenn ihre Blicke auf mich fielen, den Fremden, der nicht hierhergehörte und daher für all das büßen musste, was sich einer vernünftigen Antwort entzog?
     
    Wir legten Schnüre aus, aber kein Fisch biss an. Ich hatte wieder dieses Gefühl, als wäre alles Leben um uns herum erstorben. In der Tiefe des Meeres herrschte eine ebenso große Ruhe wie an seiner Oberfläche. Es war nicht die Angst vor Haien, die mich abhielt, schwimmen zu gehen, sondern das Gefühl, dass das Meer mich in dem Moment, in dem ich mit ihm in Berührung käme, herabziehen würde und ich für immer in seiner Dunkelheit verschwände.
     
    Am vierten Tag verschaffte ich mir einen Überblick über unseren Proviant. Wir hatten noch einen halben Sack mit Tarowurzeln und ein paar Kilo Reis. Ich machte mir keine Sorgen, dass wir hungern müssten. Noch besaß ich Verstand genug, um davon auszugehen, dass das Meer uns irgendwann Zugang zu seinen Reichtümern

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