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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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gab, nicht eine Schiffsladung Menschenfleisch, sondern eine Chance, ihren Wert zu beweisen. Herrgott. Sie sind Wilde. Sie sind Männer. Sie können nicht leben ohne Kampf. Ich bin einmal im Jahr gekommen. Ich bot den freien Männern eine Möglichkeit zu entkommen, und wer gewinnen würde, wenn sie erst einmal an Land waren, ging mich nichts an.»
    Er schwieg, und wieder glaubte ich einen Moment, er sei tot. Er lag mit geschlossenen Augen da.
    «Und dann fanden sie einen neuen und besseren Feind», sagte ich laut, ebenso zu mir wie zu ihm.
    Jack Lewis schlug die Augen auf und sah mich mit einem vorwurfsvollen Blick an, als hätte ich ihn an etwas Unangenehmes erinnert.
    «Irgendein Idiot hat ihnen Gewehre verkauft und mein Geschäft ruiniert», knurrte er und wollte aufs Deck spucken, doch anstelle von Speichel kam Blut.
    «Ich habe gute Geschäfte gemacht. Man hätte sie noch jahrelang fortsetzen können. Sie bekamen jemanden, den sie bekämpfen, totschlagen und auffressen konnten. Ich bekam Perlen. Und dann kommt dieser verdammte Satan.»

    «Wer?», fragte ich.
    «Geht dich nichts an.»
    Wieder spuckte Jack Lewis Blut.
    «Gib mir noch ein Glas.»
    Ich goss sein Glas voll und führte es ihm an die Lippen. Er hustete, der Whisky tropfte ihm von der Unterlippe und vermischte sich mit dem Blut, das ihm nun ununterbrochen aus dem Mund lief. Er seufzte.
    «Du bist jetzt der Erbe all dessen hier. Ein Beutel mit Perlen und ein Schiff; ein guter Anfang für einen jungen Seemann. Besser, als du es verdient hast.»
    Ich schwieg, wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich war nicht erfreut darüber, ein Schiff zu besitzen, das, egal, was sein Eigentümer mir einzureden versuchte, nichts anderes war als ein gemeiner blackbirder. Und auch die Perlen wollte ich nicht anrühren. Der rosa Perlmuttschimmer brachte mich auf den Gedanken, dass sie sich nicht um ein Sandkorn gebildet hatten, sondern um geronnenes Blut.
    Ich sagte nichts. Obwohl ich keinen Respekt vor Jack Lewis hatte, flößte mir doch das Einschussloch in seiner Brust Respekt ein. Er lag im Sterben, und den Sterbenden schuldet man Respekt.
    «Paradies», murmelte er. «Ein komplettes Paradies mit allem, inklusive Feinden, die bereit sind, dich umzubringen.»
    Sein Blick wanderte hinüber zu den Kanaken, und er schürzte die Lippen. Zwischen seinen gelben Zähnen sickerte Blut.
    «Wenn du ihnen den Rücken zukehrst, werden sie dir im selben Moment ein Messer hineinstechen. Sie sehen mich hier liegen. Sie haben Jim gegrüßt. Wenn sie es nicht schon vorher wussten, so wissen sie es jetzt. Auch der weiße Mann ist sterblich.»
     
    Wieder schloss Jack Lewis die Augen und seufzte. Er bewegte sich nicht. Nach einer Weile wurde mir klar, dass er die Augen nicht mehr öffnen würde. Ich hatte seine letzten warnenden Worte noch im Ohr, aber es gab keine Möglichkeit, vor den Kanaken zu verbergen, dass er tot war.
    Ich wollte ihn nicht an Bord behalten und ging hinunter in die Kajüte, um irgendetwas zu holen, in das man ihn einwickeln konnte, bevor er den Wellen übergeben wurde. Ich nahm ein Stück unbenutztes Segeltuch und wickelte ihn darin ein. Sein Hemd war von Blut durchtränkt,
aber ich schickte ihn nicht in einem sauberen Hemd über Bord. Ich mochte seinen Körper und das klebrige Blut nicht anfassen. Da lag er, mit einem Tauende verschnürt in einem Segeltuch. Ein Leben war zu Ende gegangen, und, wie mir schien, nicht gerade ein schönes. Obwohl ich nicht viel über Jack Lewis wusste, wusste ich doch genug, um seinen Tod nicht zu beweinen.
    Ich rief die Kanaken, und zusammen beförderten wir Jack Lewis über die Seitenreling. Er schaukelte einen Augenblick in unserem Kielwasser. Dann sank er hinab in die Tiefe. Ich entdeckte keine Haie bei der Leiche, bevor sie unterging. Ob er ein Christ gewesen war, wusste ich nicht. Trotzdem faltete ich die Hände. Für ihn waren andere Menschen nicht mehr gewesen als das Fleisch, das auf dem Marmortresen eines Metzgers liegt. Ich erwies ihm die letzte Ehre und betrachtete ihn als eine Art Mensch und nicht nur als ein totes Stück Fleisch, das ich über Bord warf. Ich betete ein Vaterunser.
    Ich sprach die Worte auf Dänisch. Die Kanaken standen stumm dabei. Als sie mich die Hände falten sahen, falteten sie ihre auch. Ich nahm es als Zeichen des Respekts, möglicherweise ebenso sehr für mich wie für den Toten. Ich war nun ihr Kapitän. Was sie sonst dachten, war mir nicht klar. Ihre dunklen, blau tätowierten Gesichter verrieten

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