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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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nur jeder individuelle Zug in einem bodenlosen Dunkel. Auch ihre Augen waren mir vollkommen fremd. Ich suchte nach etwas Menschlichem in ihren Blicken, fand es indes nicht. Die Augen stellten einen Teil der Maske dar, als hätte man sie auch auf der Netzhaut tätowiert.
    Ich hatte Jack Lewis nie mit ihnen sprechen hören, und mir selbst gelang es auch nicht. Ich gab meine Befehle, sie führten sie aus. Ich verband den verwundeten Kanaken und bemerkte, dass es der war, dem ein Ohr fehlte. Er schaute nicht hin, als ich versuchte, seine Wunde zu reinigen. Er sah mich auch nicht an, als ich ihm den Verband angelegt hatte.
    Es gab eine Grenze zwischen uns, die niemals überschritten wurde. Mit der Zeit verschwand jedoch meine Furcht. Das Schiff sagte uns, wer wir waren: Ich war der Kapitän, sie waren die Besatzung, und der Passat, der immer aus der gleichen Richtung kam und immer mit der
gleichen Stärke wehte, versicherte uns jeden Tag, dass alles so war, wie es sein sollte.
    In dieser Situation begann ich mich auf eine Art und Weise zu verhalten, die ich selbst auch nur als eigenartig bezeichnen kann. Ich sprach mit Jim. Ich ging hinunter in die Kajüte, zündete die Lampe mit Walöl an und nahm ihn aus seinem Beutel. Dann stellte ich ihn auf den Tisch vor mir, und im flackernden Schein der Tranlampe schien es, als würde sein Gesicht einen lauschenden Ausdruck annehmen. Ich spürte, wie er sich hinter den zusammengenähten Lidern konzentrierte. Er sagte nichts. Ich bin froh, dass er es nicht tat. Es wäre der endgültige Beweis gewesen, dass ich den Verstand verloren hatte.
    Ich legte den Beutel mit den Perlen vor ihn und nahm eine nach der anderen heraus, um sie ihm zu zeigen. Dann fragte ich ihn, ob ich sie seiner Ansicht nach behalten sollte.
    Mein erster Impuls war gewesen, die Perlen Jack Lewis ins Meer hinterherzuwerfen. Ja, es gab Augenblicke, in denen ich bereute, es nicht vor seinen Augen getan zu haben, während er noch atmete. Es wäre eine Art Sieg über ihn und die Niedertracht gewesen, von der er so sicher glaubte, mich damit anstecken zu können.
    Ich hatte zu lange gezögert. Eine Gelegenheit folgte der anderen, und nun versteckte ich die Perlen am selben Ort wie Jim. Es würde nicht lange dauern, bis ich sie auf der Brust trug. Dann würde ich sie mit meinem Leben bewachen, und die Kanaken hätten einen guten Grund, es mir zu nehmen. Wieso sollten sie nicht um den Wert der Perlen wissen und sich etwas von all den Dingen wünschen, die man sich für Geld kaufen konnte, vor allem die Freiheit?
    Es war mein gesamtes künftiges Leben, das ich in den Händen hielt, wenn ich das Gewicht des gefüllten Beutels spürte. Ich brauchte nicht einmal die Flying Scud. Ich könnte mein eigenes Schiff kaufen. Ich könnte mir drei kaufen und Reeder werden, und ein eigenes Haus, vielleicht das große hübsche nach dem Brand wiederaufgebaute Haus in der Øvre Strandstræde, schräg gegenüber vom Pfarrhof. In meiner Phantasie begann ich, dieses Haus mit einer Frau und Kindern zu bevölkern, sogar mit Dienstboten. Ich sah meine zukünftige Frau in einem veilchenblauen Kleid im Garten Rosen pflücken.
    Ich breitete diese Phantasien nicht vor Jim aus. Ich machte ihn stattdessen
zu meinem Richter. Er sollte für mich Beschlüsse fassen. Es waren nicht die Leiden, die er hatte durchmachen müssen, bevor er als Schrumpfkopf endete, die den Rang rechtfertigten, in den ich ihn erhob. Es war eher sein Schweigen, das mich anzog. Ich konnte ihm jede nur denkbare Antwort in den Mund legen, die ich mir wünschte.
    «So, Jim», sagte ich im Halbdunkel der Kajüte, «soll ich die Perlen behalten? Was sagst du?»
    Jim sagte nichts. Er sah mich nur mit seinen zusammengenähten Augenlidern an, und ich spürte, dass sich dahinter die Antworten auf all meine Fragen verbargen.
    Ich dachte an meinen papa tru. Ich hatte ihn nie um einen Rat gebeten, und er hatte mir auch nie einen gegeben. Viel zu früh waren wir getrennt worden. Und nun suchte ich nach ihm. Das war meine Mission im Stillen Ozean: meinen verschwundenen papa tru zu finden. Aber was wollte ich von ihm? Ihn um einen guten Rat bitten? Eine unterbrochene Verbindung wiederherstellen? Ich war ein Kind, als ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Jetzt war ich erwachsen und konnte nicht wieder zum Kind werden. Also, was wollte ich? Ihm zeigen, dass ich nun auf eigenen Beinen stand, auch ohne seine Hilfe? Hatte ich ihn auf der halben Welt gesucht, nur um ihm zu demonstrieren, dass ich

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