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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Nacheinander drückten wir uns gegenseitig die Hand. Sie schwiegen, kein Lächeln durchbrach die Dunkelheit ihrer Gesichter. Sie gaben mir nur die Hand. Ob es eine Sitte war, die sie von den Weißen gelernt hatten, oder eine auch unter den Eingeborenen übliche Geste, weiß ich nicht. Aber ich wusste, was es in diesem Augenblick bedeutete. Wir hatten einen Pakt besiegelt. Sie waren Seeleute, keine Wilden.
    In der Kajüte legte ich mich in Jack Lewis’ Koje. Ich spürte, dass ich mir das Recht dazu erworben hatte. Erst am nächsten Morgen entdeckte ich, dass Jim fort war. Ich erinnerte mich, dass ich ihn auf dem Tisch zurückgelassen hatte, aber dort war er nicht. Ich suchte nach ihm in der unteren Koje und dem abgeschlossenen Schrank, aber er war nirgendwo
zu finden. Erst als ich meine Suche auf den Kajütendielen fortzusetzen begann, tauchte er wieder auf. Er war in eine Ecke gerollt, und es schien, als würde ihm seine demütige Position auf dem nicht sonderlich sauberen Boden etwas von dem Unheimlichen nehmen, das mich angezogen und gleichzeitig abgestoßen hatte. Ich bürstete ihm den Staub aus den Haaren. Dann steckte ich ihn in den verschlissenen Beutel und schloss ihn im Schrank ein.
    Ich dachte nicht einen Moment daran, ihn den gleichen Weg wie die Perlen gehen zu lassen. Er stellte keine Bedrohung mehr dar. Jim war ein Zeuge für die Düsternis in Jack Lewis. Aber ich war dort gewesen und wieder zurückgekehrt.

    Es dauerte eine Woche, bis wir Samoa erreichten. Während all dieser Zeit dachte ich nicht an den Grund meiner Reise. Ich war mit meinen Pflichten als Kapitän beschäftigt. Ich berechnete die Höhe der Sonne, steckte den Kurs ab, achtete auf die Segel und gab meine Befehle. Wir hatten genügend Wasser und lebten von Fisch. Wir begegneten keinen anderen Schiffen, und der Passat blies immer aus derselben Richtung.
    Wenn ich am Bug stand und beobachtete, wie das Wasser sich in einer ewigen Welle brach und die weißen Schaumtropfen wie ein Perlencollier, das auf einem Steinboden zerspringt, aufspritzten, dachte ich an Jack Lewis’ Worte, dass ein junger Mann der ganzen Welt, dem Meer und allen darin enthaltenen Inseln nachreisen sollte. Doch wenn mein Blick achteraus über den weißen Kielwasserstreifen wanderte, der in der Sonne glitzerte, sah ich, dass er einer Kette glich, und wusste, dass ich in dem Moment, als ich zum Kapitän der Flying Scud wurde, frei und gefesselt zugleich war.
    Es schien so unendlich groß, das Meer. Es konnte dich überallhin führen, und doch legte es dich in Eisen.
     
    Apias Hafen hat die Form eines Flaschenhalses. Es ist eine große Bucht, bekränzt von zwei Halbinseln. Die westliche heißt Malinuu, die östliche Matautu. Um sie herum liegt das Riff, ungefähr wie die Mole um Marstal.
Das Donnern der Brandung ist so laut, dass es Mühe bereitet, an Land ein Gespräch zu führen. Sogar in fünf Kilometern Entfernung, hoch oben in den grünen Bergen, die sich hinter Apia erheben, ist das Brechen der Wellen zu hören. Niemand in Apia würde von einem Rudergänger, der sein Schiff bei dem Versuch verliert, bei Sturm durch die Lücke im Riff zu steuern, behaupten, er sei ein schlechter Seemann, denn die Aufgabe wird als unlösbar erachtet. Stattdessen würde man über seinen Kapitän sagen, dass er entweder unverantwortlich oder unkundig ist, denn jeder weiß, dass das Meer bei einem Sturm ein sichererer Ort ist als eine Bucht, die keinerlei Lee bietet, wenn der Wind direkt darauf steht.
     
    All dies war mir nicht bekannt, als ich über die Seekarte gebeugt in Kapitän Lewis’ Kajüte stand. Apia bedeutete lediglich ein Name auf einer Karte. Seit damals habe ich begriffen, dass ein Schiffbruch durchaus kein Unglück sein muss. Selbst wenn ein Schiff untergeht, kann dies die Ehre eines Mannes retten.
    Und ich dachte an meine Ehre. Wie sollte ich jemals erklären, wie ich zum Kapitän der Flying Scud geworden war? Wer würde meiner Geschichte über die freien Männer im Laderaum, die Kannibalen der Morning Star, Jack Lewis’ Tod und den Lederbeutel mit den Perlen, den ich über Bord warf, Glauben schenken?
    War es nicht einfacher anzunehmen, dass ich Jack Lewis ermordet hatte, um an sein Schiff und seinen Reichtum zu gelangen? Ruhte nicht noch immer ein Fluch auf der Flying Scud, und würde Jack Lewis’ Schatten mich nicht bis zu dem Augenblick verfolgen, bis ich mich nicht nur von seinen Perlen, sondern auch von seinem Schiff getrennt hatte?
    Ich war an die Flying Scud

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