Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
Vom Netzwerk:
Riff. Der Sturm hatte seinen Höhepunkt erreicht, und obwohl die Küste nicht weit entfernt war, bot sie uns keinen Schutz.
    Die donnernde Brandung kam rasch näher. Ich stützte mich auf die Ellbogen und sah den weißen Strand nahe vor mir. Es war mir, als befände ich mich auf einer Höhe mit den schwankenden Kronen der Kokospalmen. Ich saß auf dem Dach eines umstürzenden Hauses und erkannte das Vergebliche all meiner Pläne. Dieselbe Welle, die mich auf ihrem Rücken trug, würde mich auch zerschmettern. Schon im nächsten Augenblick würde ich begraben sein unter einem einstürzenden Berg aus Wasser.
    Dann brach sich die Welle mit einem Brüllen wie von tausend Wasserfällen. Mit einem plötzlichen Ruck verschwand das Floß unter mir.
Ich befand mich im freien Fall zwischen Himmel und Meer, die unvermittelt ihre Plätze vertauscht hatten.
    Ich kann nicht sagen, dass alles schwarz wurde. Eher wirkte alles grün, so wie das tropische Meer. Aber weg war ich, an irgendeinem erinnerungsfernen Ort, wo nichts geschah, bis ich wieder zu mir kam. Ich befand mich in den Armen eines der Kanaken.
    Hinter uns brach sich eine weitere gigantische Welle. Wir befanden uns mitten in diesem kochenden Schaum, in den die Kraft der großen Wellen ausläuft, bevor sie sich dem saugenden Sand des Strandes ergeben. Noch hatten wir keinen festen Boden unter den Füßen. Ich stieß auf und keuchte. Das blaue Gesicht meines Retters blieb regungslos, konzentriert auf die Anstrengung, uns sicher die letzten Meter bis zum Ufer zu bringen. Ich erkannte ihn an dem fehlenden Ohr wieder. Es war der verwundete Kanake, den ich selbst die Bordwand hinaufgetragen und seither gepflegt hatte. Nun waren wir quitt.
    Dann überspülte uns die nächste Welle. In wilder Panik trat ich um mich und spürte, wie mein Fuß Sand berührte. Ich fand Halt, verlor ihn aber sofort wieder, versuchte, auf allen vieren durch den kochenden Schaum zu krabbeln. Die Brandung hatte sich müde gelaufen, und das Wasser zog sich mit gewaltiger Kraft zurück. Es spritzte mir ins Gesicht und riss Arme und Beine unter mir weg. Ich wurde bereits fortgespült, als der Kanake mich wieder packte. Die letzten Meter ging ich aufrecht, wobei ich mich auf ihn stützte.
    Der Strand war menschenleer, als wären wir in eine verlassene Welt gekommen. Ich wollte mich vor Erschöpfung auf den Boden werfen, doch der Sturm traktierte meinen halbnackten Körper mit Sand.
    Ich hörte ein Krachen, und sah eine Palme umstürzen. Ihre Krone schwankte und landete auf dem Dach einer Hütte, die unter dem plötzlichen Gewicht zusammenbrach.
    Hier konnten wir nicht bleiben. Wir mussten weiter landeinwärts, in der Hoffnung, dort Schutz zu finden.
    Hinter uns ertönte ein Schrei. Ich drehte mich um und sah zwei Kanaken mit der Brandung kämpfen, bevor sie auf den Strand taumelten. Dann tauchte eine dritte Gestalt auf. Die ganze Besatzung hatte sich an Land retten können. Mit ihren blauen Gesichtern glichen sie in kochendem Schaum geborenen Wassermännern.

    Ich empfand eine große Erleichterung. Ich hatte die Flying Scud verloren, aber keinen meiner Männer. Sie hatten sich selbst gerettet und mich noch dazu. Mein Verdienst war es also nicht. Aber ich wusste, dass es mir künftig leichter fallen würde, einen Untergang zu ertragen.
     
    Die in der Nähe stehenden Hütten waren alle verlassen. Wir konnten uns kaum auf den Beinen halten, doch wir hatten den Wind im Rücken und wurden laufend und stolpernd vorangetrieben. Bald gaben wir es auf und krochen auf allen vieren weiter. Um uns herum hörten wir das dumpfe Krachen, wenn eine Kokosnuss aufschlug. Die langen, bedrohlich schwankenden Stämme der Palmen ächzten. Ich schaute auf meine Hände und Knie. Sie waren der letzte Kontakt mit der Erde in diesem verrückten Wetter. Ich dachte, am Ende würden wir alle direkt in den unermesslichen Himmelsraum geblasen.
    Dann endlich wurden unsere Rufe um Hilfe beantwortet und wir in eine Hütte eingelassen. Es brannte kein Feuer, und die Bewohner hockten stumm und bedrückt da, als könnten sie der Wut des Sturms entkommen, wenn sie sich unsichtbar machten. Das Haus wackelte, und das Dach knarrte gefährlich, aber noch hielt es. Ich fühlte mich zu erschöpft, um daran zu denken, welchen Eindruck ich machte. Ich war ein Schiffbrüchiger, der Schutz suchte – ob ein Weißer oder nicht, war bedeutungslos. Der Sturm hatte uns alle gleich werden lassen.
    Nach kurzer Zeit schlief ich ein. Als ich wieder erwachte,

Weitere Kostenlose Bücher