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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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untergegangen. Die See hatte aufgehört zu atmen, und wir ruhten auf ihrer breiten Brust. Bald würden auch unsere Herzen aufhören zu schlagen.
     
    Ich bin nicht abergläubisch, und ich weiß nicht, ob Kanaken es sind. Bestimmt sind sie es, oder besser: Das, was sie Glauben nennen, bezeichnen wir als Aberglaube. Aber ich spürte, dass dieses windstille Meer eine Strafe war, nicht für etwas, das wir getan hatten, nicht für etwas, das Jack Lewis getan hatte, denn wenn es im Jenseits einen Richter gab – woran ich zweifle –, stand Jack Lewis längst vor ihm.
    Es war eine Strafe für etwas, das ich getan hatte.
    Der Zufall hatte mich zum Kapitän der Flying Scud gemacht. Ich war unvorbereitet, und ich war jung. Doch das ist keine Entschuldigung. Ein Kapitän ist ein Kapitän, und ich hatte das Meer enttäuscht.
    Ich hatte mit Jim und einem Beutel voller Perlen in der Kajüte gesessen. Ich hatte an mich gedacht und nicht an die Besatzung. Waren die
Kanaken in meinen Gedanken aufgetaucht, dann nur, weil ich fürchtete, sie könnten meinen Plänen im Weg stehen.
    Aber was hätte ich denn machen sollen? Ich konnte doch nicht über den Wind herrschen und ihm befehlen, meine Kommandos zu befolgen. Wie sollte ich an dieser Windstille schuld sein, die uns wie ein Fluch getroffen hatte?
    Ich dachte, ich habe Fieber, es sei der Durst, die drückende Hitze, der träge Flügelschlag der verendenden Schmetterlinge, der gasblaue Himmel am Tag und die ständig ferneren Sterne in der Nacht, die meinen Geist verwirrten und meine Gedanken in die falsche Richtung lenkten.
    Wer versteht die Natur wirklich? Wieso hört der Wind plötzlich auf zu wehen?
    Vielleicht interessiert sich die Natur überhaupt nicht dafür, ob wir leben oder sterben?
    So gesehen ist es viel leichter, sich selbst anzuklagen.
     
    Ich stand auf und ging hinunter in die Kajüte, nahm den Beutel mit den Perlen und kehrte zurück an Deck, wo ich die Perlen so weit ins Wasser warf, wie es meine Kräfte zuließen.
    Nur so, dachte ich, konnte ich meine Schuld sühnen und mich endlich von Jack Lewis befreien, denn er weilte noch immer an Bord. Ich reiste mit Schatten. Ich lebte in einer Welt der Wiedergänger, und doch habe ich bis heute das Gefühl, dass ich vernünftig handelte. Als meine Hände endlich leer von allem waren, was sie ohnehin nicht hätten besitzen dürfen, und mein Geist befreit von den leichtsinnigen Träumen, hatte ich das Recht erworben, mich Kapitän zu nennen. Nun kannte ich die Ehre und einzige Pflicht eines Kapitäns: seine Mannschaft lebend in den Hafen zu bringen.
    Ich hatte all meine Zukunftsträume über Bord geworfen und nur noch einen einzigen Wunsch: Ich hoffte, dass ein Sturm aufkommen und uns von dieser Windstille befreien würde, in der wir wie in erstarrter Lava steckten.
     
    Ich blieb an der Reling stehen und hielt Ausschau über ein Meer, dessen Oberfläche sich nicht veränderte. Ich drehte mich um und schaute auf die Kanaken, die zusammengesunken auf Deck saßen. Ihr verwundeter
Kamerad lag ausgestreckt zwischen ihnen. Sie starrten auf ihre Hände und dösten in der drückenden Hitze vor sich hin.
    Ob sie mich beobachtet hatten, als ich die Perlen über Bord warf, wusste ich nicht, aber wenn dem so war, werden sie wohl geglaubt haben, dass ich einem Gott opferte, der sich von ihren Göttern nicht sonderlich unterschied.
    Doch ich brachte mein Opfer nicht, um mich mit irgendeinem Gott zu versöhnen. Ich brachte ein Opfer für mich selbst und meine Pflicht.
     
    Die Sonne ging unter, wie sie an all den Abenden untergegangen war, an denen die Windstille uns in ihrem Griff hielt. Am ersten Abend hatte ich noch gedacht, sie ähnle einer Kugel auf dem Weg in mein Herz. Nun sah sie noch dunkler aus, rot, nicht wie Blut, sondern wie das Einschussloch, das die Kugel hinterlässt. Die Welt war eine Beute, die ein unbekannter Jäger erlegt hatte.
    In der Nacht wurde ich von einem Geräusch geweckt, das ich zunächst für ein Knistern hielt. Noch immer im Halbschlaf, dachte ich, an Bord sei ein Brand ausgebrochen, die Hitze hätte die Flying Scud sich selbst entzünden lassen. Dann begriff ich, dass dieses Geräusch, das ich hörte, nicht von trockenem Holz stammte, das von Flammen verzehrt wird. Es war ein hartes Klatschen auf dem Sonnensegel über uns.
    Als ich mich halb erhoben hatte, spürte ich einen Windstoß im Gesicht. Es hatte aufgefrischt. Und zusammen mit dem Wind kam der Regen.
    Ich stellte mich an die Reling und öffnete den

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