Wir fangen gerade erst an: Roman (German Edition)
ihr Sonnenschein gewesen. In ihrem letzten Sommer draußen auf dem Land hatten sie die Pferde im Stall angeschaut, Blaubeeren gepflückt und am See gesessen und geangelt. Doch an einem Sonntagmorgen, als sie noch schlief, hatte er sich die Angel genommen und war hinunter an den Steg gegangen. Und dort, an einem Pfosten, hatte sie ihn gefunden. Ihr Leben hatte still gestanden, und wären da nicht ihre Eltern gewesen, hätte sie wahrscheinlich keinen Tag länger weiterleben können. Sie war danach noch mit einigen Männern zusammen gewesen, doch als sie noch einmal versucht hatte, ein Kind zu bekommen, erlitt sie eine Fehlgeburt. Am Ende war sie zu alt dafür und verabschiedete sich von dem Gedanken an eine Familie. Die Trauer über ihre Kinderlosigkeit trug sie in sich, doch sie zeigte es nicht. Stattdessen verbarg sie ihren Schmerz, ein Lachen konnte viel überspielen. Dass die Menschen sich so leicht täuschen ließen, dachte sie sich.
Doch dann schob Märtha ihre Gedanken beiseite, schlich in Schwester Barbros Zimmer und öffnete den Schlüsselkasten. Als sie hinauf ins Dachgeschoss stieg, kam ihr der Duft des Essens wieder in den Sinn, und sie zog voller Vorfreude den Schlüssel aus der Tasche. Da stockte sie. Anstelle eines Schlüssellochs hatte sie so einen komischen Spalt vor sich, in den man eine Plastikkarte stecken musste. Die Diamant GmbH hatte aus der Küche eine unbezwingbare Festung gemacht! Welche Enttäuschung! Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich von diesem Schock erholt hatte und wieder nach unten fahren konnte. Aber sie gab nicht gleich auf, sondern drückte den Knopf für das Untergeschoss. Vielleicht fand sie im Keller eine Speisekammer oder einen Lagerraum.
Als sich die Fahrstuhltüren öffneten, wusste sie nicht sofort, wo sie war, doch am Ende des Flures drang durch eine uralte Tür mit Oberlicht ein ganz schwaches Licht. Auch diese Tür war abgeschlossen, aber hier passte der Generalschlüssel, den sie hatte. Vorsichtig öffnete Märtha die Tür und hatte mit einem Mal frische, kalte Winterluft im Gesicht. Wie herrlich, hier ging es nach draußen! Von der Kälte wurde sie richtig klar im Kopf, und da fiel ihr der Schlüssel zu ihrem Elternhaus ein. Der hatte nämlich genau so einen dreikantigen Kopf wie der Generalschlüssel. Wenn sie die beiden tauschte, würde kein Mensch etwas merken. Märtha schloss die Tür, knipste das Licht an und begab sich in den anderen Flur. Auf einer Tür stand geschrieben: »FITNESSRAUM – NUR FÜR PERSONAL«. Märtha schloss auf und trat ein.
In dem Raum waren keine Fenster, und es brauchte eine Weile, bis sie den Lichtschalter gefunden hatte. Die Leuchtstoffröhren sprangen an, und plötzlich sah sie Springseile, Hanteln und Heimtrainer. An den Wänden standen Bänke, Laufbänder und komische Geräte, deren Namen sie gar nicht kannte. Das hieß, die Geschäftsleitung hatte die körperliche Betätigung der Bewohner gekürzt, sich selbst aber gleichzeitig ein Fitnessstudio eingerichtet! Wie oft hatten sie verlangt, dass sie wieder mehr in die frische Luft könnten, doch die Direktion hatte ›nein‹ gesagt. Märtha bekam eine Riesenlust, die Tür einzutreten (was in ihrem Alter äußerst schwierig war), doch stattdessen ließ sie alle Schimpfwörter los, die ihr in den Sinn kamen, machte einen Buckel wie eine Katze und drohte mit der Faust.
»Na wartet nur, ihr Gauner, das zahlen wir euch heim!«
Als sie wieder im Büro war, legte sie den Schlüssel zu ihrem Elternhaus unter die Tür und zog sie zu. Dann hängte sie den verbogenen Schlüssel in den Kasten. Jetzt würde sich niemand wundern, wenn er nicht mehr passte. Dann ließ sie den Generalschlüssel in ihrem BH verschwinden, ging ins Bett und zog die Decke bis unters Kinn. Der erste Schritt in eine Revolution war Bewegungsfreiheit. Das war nun geregelt. Mit einem Lächeln auf den Lippen fiel sie in den Schlaf und träumte von einer Seniorenbande, die eine Bank überfiel und mit wehenden Fahnen ins Gefängnis einzog.
5
Die Pläne, die Märtha und Snille ausheckten, wurden von Tag zu Tag kühner. Die Aussicht auf Neues weckte in ihnen die Lebensgeister, gerade das Unbekannte hatte seinen Reiz. Gleichzeitig wurden die Einsparungen im Haus Diamant vorangetrieben. Es gab kein Gebäck mehr am Nachmittag, und nach drei Tassen Kaffee am Tag war Schluss. Als die Alten den Weihnachtsbaum schmücken wollten, kam der nächste Schock. Es gab keinen Baumschmuck mehr, eine Entscheidung der
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