Wir fangen gerade erst an: Roman (German Edition)
Donnerlachen. Wäre nicht von Zeit zu Zeit der Pfarrer mit Nachrichten von Snille gekommen, hätte sie es sicher nicht ausgehalten. Doch dank seiner Gedichte schöpfte sie neuen Mut. Und sie hatte eine neue Beschäftigung gefunden. Den neuen Plan .
»Nun beeilen Sie sich mal. Oder wollen Sie nicht mit …?«, ermahnte sie der Fahrer. Der Mann vom Fahrdienst wollte schnell aufbrechen, um nicht in den dichtesten Freitagsverkehr zu kommen. Aber Märtha bewegte sich mit ihren Handschellen sehr langsam, und außerdem dauerte es eine Weile, bis der Rollator zusammengeklappt war. Die Beamten halfen zwar, aber sie wussten nicht, wie sie den Abstandshalter einknicken mussten. Märtha half ihnen und ließ sich dann völlig außer Atem auf dem Rücksitz zwischen den Herren nieder. Das Auto startete, das Tor öffnete sich, und dann verließen sie das Gelände. Die Fahrt nach Örebro ging schnell, und während sie durch die Landschaft fuhren, dachte Märtha an ihre Freunde aus dem Chor. Anna-Greta und Stina kamen auch nach Hinseberg, und sie freute sich darauf, sie wiederzusehen. Ihnen konnte sie ihren neuen Plan schon anvertrauen. Im gegenwärtigen Stadium war es vermutlich angebrachter, von Ideen zu sprechen. Immerhin sollten sie mit »ins Boot«.
Nach einigen Kilometern drosselte der Fahrer das Tempo. Märtha sah ein weißes Gebäude, umgittert von Zaun und Maschendraht. Nachdem sie die Wache am Tor passiert hatten, fuhr der Wagen auf den Hof und hielt an. Märtha sah aus dem Fenster. Sie hatte gehört, dass es Hinseberg schon seit dem Mittelalter gab und hier die Adelsleute gewohnt hatten. Auch nicht verkehrt, in einem alten Herrenhofanwesen gefangen gehalten zu werden, dachte sie, auch wenn einige der historischen Gebäude abgerissen worden waren. Im Hintergrund sah sie das Glitzern eines Sees. Hier gab es auch keine hohen Mauern aus Beton, und durch den Maschendraht und Stacheldraht konnte man wenigstens hindurchsehen. Sie stieg aus, bedankte sich für die Fahrt und begrüßte die neuen Wärter. Eine spindeldünne Frau, etwa Mitte vierzig, mit langem, blonden Haar empfing sie.
»Märtha Anderson?«, fragte sie und blätterte in ihren Unterlagen.
»Höchstpersönlich«, antwortete Märtha und streckte die Hand aus. Sie fragte sich, ob man hier über ihre Ankunft schon gemunkelt habe, denn so etwas kam vor, davon hatte sie gehört. Wahrscheinlich würde keine der achtzig Gefangenen damit rechnen, eine 79-jährige Verbrecherin in die Zelle zu bekommen. Aber Alter hin oder her. Neunzigjährige konnten wie Siebzigjährige sein, wenn sie sich gut gehalten hatten, und dann gab es Fünfundsiebzigjährige, die man auf nahezu Hundert schätzte. Märtha fühlte sich aber noch immer sehr fit, denn sie hatte in der Untersuchungshaft ja trainiert. Den Rollator wollte sie hier nicht benutzen, damit wartete sie, bis sie sich wieder kriminell betätigte. Und obwohl sie wusste, dass die meisten Strafgefangenen hier zwischen 30 und 40 Jahren alt waren, machte es ihr nichts aus. Im Gegenteil, sie mochte die Jüngeren – die hatten oft mehr auf dem Kasten als Gleichaltrige.
Als die Wärterin mit dem blonden Pferdeschwanz die Papiere durchgeblättert hatte, nahm sie Märtha zur Aufnahme mit. Jetzt musste Märtha für die Leibesvisitation alle Kleider ablegen. Natürlich war es erniedrigend, sich vor fremden Menschen splitterfasernackt auszuziehen, wenn man nicht mehr aussah wie in jungen Jahren, doch da durfte man nicht zimperlich sein. Natürlich wollten die Wärter nachsehen, ob man etwas Verbotenes bei sich hatte.
»Können Sie mir vielleicht sagen, warum man so viele Falten bekommt, wenn man alt wird«, fragte Märtha und zeigte auf die Haut unter dem Kinn und am Bauch. »Wofür soll das gut sein?«
Die Dünne mit dem Pferdeschwanz sah auf, sagte aber keinen Ton.
»Man kann einen Facelift schließlich nicht am ganzen Körper machen, wie würde das aussehen«, fuhr Märtha fort und konnte es sich nicht verkneifen, über ihren eigenen Witz ein bisschen zu lachen.
»Nehmen Sie die Arme hoch!«
»Ja, natürlich. Ich könnte ja irgendwas unter den Achseln versteckt haben. Aber unter meinem Hängebusen ist viel mehr Platz.«
Die mit dem Pferdeschwanz verzog keine Miene.
»Hängebusen sind perfekt für gestohlene Diamanten – auch wenn das ein bisschen piekst«, zwitscherte Märtha und zeigte auf die zwei hängenden Erinnerungen an eine vergangene Zeit.
»Verstehen Sie, Gold ist zu schwer und fällt runter.«
»Wie bitte?«,
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