Wir Genussarbeiter
Bundestagsdebatte. »Die Fortschritte bei der Entwicklung von Schmerzmitteln haben die menschliche Erfahrung des Schmerzes verändert«, schreibt der Soziologe David le Breton in seinem Buch Schmerz . »Sobald der Patient weiß, daß der Schmerz durch die schlichte Einnahme eines Medikamentes beseitigt werden kann, schmilzt seine Bereitschaft, ihn zu ertragen, dahin. Der Schmerz wird als unnötiges und unfruchtbares Residuum betrachtet, das der Fortschritt beseitigen muß, ein furchtbarer Anachronismus, der zu verschwinden hat.«
Schmerzen peinigen, sie erscheinen uns überflüssig und unnütz, ja, lebensfeindlich. Zahnschmerzen, Kopfschmerzen, Regelschmerzen: Kann man darauf nicht getrost verzichten? Warum die Qualen einer Geburt ertragen, wenn es doch betäubende Rückenmarkinfusionen, die sogenannte Periduralanästhesie, gibt? Und weshalb tage- oder gar wochenlang mit einem Druck auf der Brust leben, wenn im Badezimmerschränkchen der Stimmungsaufheller steht? Schließlich will ich mein Leben genießen und mich nicht unnötig quälen! Zwar haben gerade Psychopharmaka enorme Nebenwirkungen, und auch eine PDA kann falsch gesetzt werden. Doch schon jetzt nehmen wir solche Risiken um der Schmerzfreiheit willen in Kauf, und es ist überdies durchaus denkbar, dass irgendwann auch die ersten Schmerzmittel ohne Nebenwirkungen auf den Markt kommen. Nur: Was für ein Menschenbild liegt eigentlich der Utopie absoluter Schmerzfreiheit zugrunde? Natürlich ist es ein Segen, dass Schmerzen heute gelindert werden können.
Niemand will und muss heute mehr eine Operation ohne Vollnarkose überstehen, die Möglichkeit, Schmerzen zu nehmen, kann Leben retten, und wenn es unweigerlich ans Sterben geht, ist eine palliative, das heißt schmerzlindernde Begleitung nachgerade ein Gebot der Humanität. Aber was unterscheidet den Menschen noch von einer Maschine, wenn sich jedes Leid wie auf Knopfdruck beseitigen lässt? Ist ein Leben ohne Schmerz überhaupt vorstellbar?
Ein Organismus, der überhaupt keinen Schmerz verspürte, würde mit seiner Umwelt verschmelzen. Nur durch den Schmerz erfahre ich mich als konturiert, nur durch ihn spüre ich, wann ich mir zu viel abverlange, sei es bei der Arbeit, in der Liebe oder beim Sport. Ich lerne, dass mein Körper nicht restlos verfügbar ist, dass er sich widersetzt und ich seinen Unwillen zu respektieren habe, wenn ich ihn nicht schädigen will.
»Der Schmerzkörper macht uns auf Grenzen aufmerksam«, so der Philosoph Volker Caysa. »Er signalisiert uns, dass wir uns zu überfordern, vielleicht sogar zu zerstören beginnen. Zur ›großen Gesundheit‹ (Nietzsche) des Körpers gehört auch die Fähigkeit zur Wahrnehmung und zum Erleiden von Schmerz. Denn nur durch dieses Erleidenkönnen ist garantiert, dass wir wahrnehmen, wann wir die Grenzen der Körperinstrumentalisierung des eigenen wie des anderen Körpers überschreiten und beginnen, unsere leibliche Autonomie zu zerstören. Schmerz und Leid sind also nicht einfach Anzeichen eines kranken Körpers, sondern Bedingungen der Möglichkeit von Körperkompetenz. Sie sind Selbsttechniken eines vernünftigen Körpergebrauchs und eines daraus resultierenden gelingenden Körperumgangs.« Nur wer auf seinen Schmerz hört, geht fürsorglich mit sich selbst um, gönnt sich Pausen und Rückzüge. Der Schmerz ist der Wächter über
unsere Gesundheit, ein, wenn man so will, Schutzpatron, der durchaus in paternalistischer Manier die Grenze zieht: Bis hierher und nicht weiter!
Darüber hinaus liegt im Schmerz häufig auch eine Aufforderung, sich selbst zu befragen: Warum bekomme ich immer, wenn mein Liebhaber oder meine Mutter mich besucht, so fürchterliche Kopfschmerzen? Wieso fühle ich mich in letzter Zeit so matt und zerschlagen? Hat das wirklich nur somatische Ursachen oder nicht vielleicht doch auch psychische? Manchmal leiden Menschen unter schlimmsten chronischen Schmerzen, ohne dass ein organischer Befund vorläge. »Seit langem ist bekannt, dass sich bei einer großen Zahl von Schmerzpatienten keine oder keine ausreichenden organischen Veränderungen, die die Schmerzsymptomatik ausschließlich erklären könnten, finden lassen«, schreiben die Schmerztherapeuten Andreas Kopf und Rainer Sabatowski. Häufig seien Patienten mit seelischen Spannungen oder Affekten derart überfordert, dass sie diese stattdessen »in körperliche Spannungszustände verwandeln«. Und um herauszufinden, um welche seelischen Spannungen es sich handelt, sei eine
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