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Wir Genussarbeiter

Wir Genussarbeiter

Titel: Wir Genussarbeiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Svenja Flaßpoehler
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Schopenhauer (womit er sich entschieden gegen den Pflichtethiker Immanuel Kant wandte), sondern nur aus Neigung: Nur wenn ich selbst etwas als schmerzhaft erfahre, will ich es auch für andere nicht. Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu, so besagt ja in der Tat die berühmte ›Goldene Regel‹ (die man häufig fälschlicherweise mit dem Kategorischen Imperativ Kants verwechselt, ein Imperativ, der jedes eigene Wollen bzw. Nichtwollen dem allgemeinen Gesetz unterwirft).
    Auch evolutionsbiologisch lässt sich die Verbindung von Schmerz und Moral erklären. Bereits in Urzeiten haben Schmerzäußerungen empathisches Verhalten ausgelöst, und sie tun es noch heute: Wer vor Schmerz das Gesicht verzieht oder aufschreit, bekommt (in aller Regel) Aufmerksamkeit, Zuneigung, Hilfe. »Schmerzäußerungen erfüllen in einem sozialen Umfeld eine wichtige appellative Funktion, nämlich die Aufforderung, parentales Verhalten, also Empathie und Betreuung zu entwickeln«, so die Schmerztherapeuten Kopf und Sabatowski. »Die archaischen und universalen Methoden der Schmerzbekämpfung sind Zuwendung, Körperkontakt, Stützen, Massieren, Trösten und Gebete …«
    Das Zeigen von Schmerz und Schwäche ist also immer auch ein Zeichen dafür, dass menschliche Nähe gebraucht wird; und tatsächlich existiert eine solche Nähe ja überhaupt nur da, wo Menschen sich einander als verletzlich offenbaren. Nur wenn ich mich in meiner Verwundbarkeit einem Gegenüber anvertraue, kann eine Beziehung entstehen, und nur wenn der andere von meiner Verletzlichkeit weiß, kann er sich entsprechend verhalten. »Zeige deine Wunde!«, hieß entsprechend eine Installation des Künstlers Joseph Beuys
in den siebziger Jahren, die den Menschen in seiner Anfälligkeit und Sterblichkeit thematisierte: Die Installation erinnerte vage an ein verdrecktes Krankenzimmer, Leichenbahren aus der Pathologie. Vogelschädel, Fieberthermometer und mit Fett gefüllte Behälter wiesen auf die Vergänglichkeit des Menschen hin, stellten ihn als hinfälliges Wesen aus. Die narzisstische Wunde des Menschen ist seine Verletzlichkeit, seine Endlichkeit – und anstatt sie zu verleugnen gilt es, offensiv mit ihr umzugehen, ja, zur Not sogar auf sie hinzuweisen wie Jesus in Caravaggios Gemälde Der ungläubige Thomas : Das Gemälde zeigt den Auferstandenen mit klaffender Wunde in der Brust, zu der er einen Finger des neben ihm stehenden Apostels Thomas führt. Thomas nämlich zweifelt an der Leibhaftigkeit Jesu, und um ihn zu überzeugen, legt Jesus den Finger in die Wunde.
    Bild 3 Der ungläubige Thomas (1602) VON MICHELANGELO MERISI DA CARAVAGGIO

    Dass ein Wundmal, dass ein Stigma allerdings durchaus auch schambesetzt ist und seine Offenbarung insofern immer Überwindung kostet, wird in Caravaggios Gemälde ebenso deutlich: Bei genauerem Hinsehen ist nämlich nicht mehr ganz klar, ob Jesus die Hand des Thomas wirklich zu seinem Körper hinführt oder ob er diese womöglich doch eher zurückhält. »Zieht seine rechte Hand das Gewand über die Wunde, um das Geschehen zu verbergen oder zieht sie das Gewand weg und lenkt den Blick so auf die Wunde hin?«, fragt die Kulturwissenschaftlerin Sophie Wennerscheid in ihrem Buch Das Begehren nach der Wunde . »Und schaut Thomas wirklich auf die von ihm begehrte Wunde oder starrt er nicht vielmehr in angestrengter Abwehr an ihr vorbei?«
    Dies ist die zitternde Ambivalenz der Wunde: Auf der einen Seite macht sie uns überhaupt erst menschlich, auf der anderen Seite aber sind wir ständig bemüht, wunde Stellen zu kaschieren und zu verstecken, um uns unangreifbar zu machen. Nur: Was wäre, wenn das Wundmal der eigenen Existenz wirklich irgendwann verschwände? Ist ein Zustand, in dem die eigene Endlichkeit, die eigene Verletzlichkeit verleugnet wird, nicht selbst ein todesähnlicher Zustand? Wer keinen Schmerz empfindet, hat keine Fragen, keine Bedürfnisse, kein Verlangen mehr. »Die Wunde offen zu halten kann ja auch gesund sein«, schrieb der dänische Philosoph Søren Kierkegaard im 19. Jahrhundert: »eine gesunde und offene Wunde; manchmal ist es am Schlimmsten, wenn sie zuwächst.« Nur wenn die Wunde offen bleibt, hat der Mensch einen Seinsgrund; sobald sie sich schließt, erstirbt alles Wünschen und Wollen.
    Und mit der Wunde ist noch mehr verbunden: nämlich, so absurd das zunächst klingen mag, das Genießen. »[D]ie Wunde ist in ihrer obszön klaffenden Form, in ihrer fleischlichen
Beschaffenheit und

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