Wir Genussarbeiter
in ihrer dunkelrot glänzenden Farbe dasjenige am menschlichen Körper, das unser Begehren als etwas weckt, von dem wir meinen, es uns verbieten zu müssen«, schreibt Sophie Wennerscheid. »An ihr wird, stärker als an anderen tabuisierten Orten sichtbar, dass sich jegliches Begehren am Nichtberührbaren und Unbegreifbaren entzündet. « In ihrer ›obszön klaffenden Form‹, ihrer ›dunkelrot glänzenden Farbe‹ und ihrer ›fleischlichen Beschaffenheit‹ wecke die Wunde das Begehren, so Wennerscheid. Erinnert diese Beschreibung nicht an das weibliche Geschlecht? An die obszön klaffende, dunkelrote, fleischliche Vulva? Wer sich an seiner Wunde berühren lässt oder sich dort selbst berührt, verschafft sich Lust. Das mag sich paradox anhören, wird aber verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, wie eng die Lust mit dem Schmerz zusammenhängt. Ein Mensch, der zum Orgasmus gelangt, verzieht sein Gesicht, als erleide er gerade schreckliche Schmerzen; in Wahrheit aber befindet er sich auf dem Höhepunkt seiner Lust. Was wir im Augenblick der Ekstase genießen, ist eine Gefühlsintensität, ja, ein Taumel, in dem Schmerz und Lust zusammenfallen. Körpersäfte fließen, Sperma, Schweiß, vielleicht sogar Blut, eine Spannung, die sich im Körperinneren aufgestaut hat, entlädt sich, dringt durch die Körperöffnungen nach außen, kurz: der genießende Mensch verströmt sich, er stirbt einen ›kleinen Tod‹. Entsprechend ist die geöffnete Wunde für den Philosophen Georges Bataille das Sinnbild des Genießens: »Das wirkliche Glück empfinden wir nur«, schreibt er, »wenn wir nutzlos verschwenden, so als ob sich in uns eine Wunde öffnete: wir wollen stets der Nutzlosigkeit unserer Verschwendung gewiß sein, manchmal auch ihrer Verderblichkeit. Wir wollen uns so weit wie möglich von jener Welt entfernt wissen, in der Anhäufung der Mittel die Regel ist.«
Wie eng Lust und Schmerz zusammengehören, zeigt sich besonders eindrücklich dann, wenn der Mensch sich selbst Wunden zufügt. In seinem Buch Confessions of a Knife erzählt der Arzt Richard Selzer die folgende Geschichte: Als er eines Tages in das Zimmer einer frisch operierten Patientin tritt, erwischt er sie mit einem Rasiermesser in der Hand: Sie hat sich den Unterleib aufgeschnitten und wühlt mit ihren Händen in der Wunde. Nachdem sie vom Arzt abermals notoperiert wurde, fragt sie ihn: »Das hätte doch eigentlich schrecklich weh tun müssen, oder? Also wenn das wirklich mein Körper gewesen wäre, hätte es doch weh tun müssen. Aber ich spürte überhaupt nichts!« Da begreift Selzer, was die Patientin in ihrem Innern gesucht hat: ihren abhandengekommenen Schmerz. Oder ihre abhandengekommene Lust?
Wenn der Mensch keinen Zugang mehr hat zu seinen eigenen Gefühlen, beginnt er, sich selbst zu traktieren: denn ein blutiger Körper, der sich selbst wieder spürt, ist allemal besser als der emotionale Tod. Doch nicht nur in pathologischen Fällen wie diesem, auch in kulturell etablierten und anerkannten Techniken verschaffen wir uns heute in einem immer stärkeren Maße durch Schmerzzufügung Lust. Ob Extremsport, Lippenpiercing oder Ganzkörpertätowierung: Es scheint, als sehnten wir uns heute regelrecht nach dem Schmerz – und das ausgerechnet in einer Zeit, die doch zugleich von absoluter Schmerzfreiheit träumt! Oder ist die Zunahme an selbstverletzendem Verhalten womöglich nur die Kehrseite dieses Traums? »Je mehr Leiden künstlich beseitigt werden, umso mehr Schmerzen müssen ebenso künstlich geschaffen werden«, meint der Philosoph Arndt Pollmann. »Lieber ein gewaltsames Traktieren der eigenen Hülle sowie ein Leben hart an der eigenen Grenze als die gefühlskalte Formlosigkeit einer hochtechnologisierten Welt, in der das eigene Leben – ganz
ohne Schmerzen – keine deutlichen Konturen mehr gewinnen kann.« Die Lust am Schmerz hat demnach durchaus nicht nur individuelle Gründe, sondern auch kulturelle: In einer Zeit, in der jedes Schmerzgefühl getilgt wird, muss der Mensch sich offensichtlich selbst Schmerz respektive Lust verschaffen, um sich seiner Körpergrenzen überhaupt noch versichern zu können. Tatsächlich wird der Schmerz ja nicht nur durch die Medizin sukzessive zum Verschwinden gebracht, sondern auch durch die Technik. Vorbei die Zeit, in der man sich körperlich anstrengen musste, um den Tag zu bewältigen: Heute steigen wir morgens ins Auto, im Büro setzen wir uns an den Computer und erledigen alles bequem per
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