Wir Genussarbeiter
Christentums? Wäre Antonius ein glücklicherer Mensch gewesen, wenn er wie Sokrates speisend dem Eros gehuldigt hätte, anstatt in der Wüste zu darben? In jedem Fall sollten wir, so viel sei am Ende gesagt, unseren Dämonen Gehör schenken – und zwar nicht zuletzt, weil auch Eros zu ihnen zählt. Der Gott der Liebe, so lehrte einst Diotima, war nämlich ein »großer Dämon«, ein Wesen zwischen Gott und Mensch, das uns im Wachen oder im Schlaf heimsucht, um, einem Priester, Wahrsager oder Propheten gleich, göttliche Botschaften zu übermitteln. Erotisch, ja abgründig sind diese Botschaften, gekleidet in Traumbilder, die von Versuchung und Verführung handeln, von einem Genießen, das umso monströser und bedrohlicher wird, je mehr man es sich versagt. Von diesem Genuss kündet der Dämon und macht damit bewusst, was, als Verdrängtes, im Schattenreich des Unbewussten schlummerte. Mit anderen Worten: Er holt das Genießen hinein ins Denken.
Der grenzenlose Mensch
Über das Verschwinden des Schmerzes
»Ich nehme jetzt eine Tablette, und dann geht es mir gleich wieder gut.« So oder so ähnlich klang der Satz, ausgesprochen von einer Frau in einem Werbespot der achtziger Jahre für das Schmerzmittel Aspirin. In meiner Erinnerung ist die Frau schon etwas älter und sehr gepflegt, eine, so dachte ich damals als Kind, feine Frau, die sich selbst genauso unter Kontrolle hat wie ihre perfekt aufgeräumte Wohnung. Eben noch war sie von Kopfschmerz geplagt, hielt sich die Hand an die Schläfe, aber jetzt, während sie mit ihrer Verabredung telefoniert, klingt ihre Stimme ganz ruhig und klar, denn sie weiß, dass sie nur das Medikament einnehmen muss, und schon wird der Schmerz vergehen. Deutlich sehe ich noch ihre lackierten Nägel vor mir, sehe, wie sie die Tablette in ein Glas Wasser gleiten lässt; und bereits in der nächsten Einstellung, sie hat das Mittel offensichtlich getrunken, legt sie mit entspanntem Lächeln Perlenohrringe an, um kurz darauf einen Mann in akkuratem Anzug zu begrüßen.
Wenn ich die Werbung im Fernsehen sah, hatte ich jedes Mal das Gefühl, dass mit dieser Frau irgendetwas nicht stimmt, etwas, das mich abschreckte und faszinierte zugleich. Diese Kontrolliertheit! Diese beinahe unheimliche Verwandlung durch die Tablette! Wäre es nicht besser für die Frau gewesen, zu Hause zu bleiben? Was, wenn sie den Mann nur nicht enttäuschen will? Oder wenn sie gar seinetwegen Kopfschmerzen
hat? Vielleicht, überlegte ich, mag sie den Mann eigentlich gar nicht! Gleichzeitig aber bewunderte ich die Frau für ihre Aufgeräumtheit und Ruhe. Sie ließ sich nicht durch irgendein Wehwehchen von ihren Plänen abbringen, war kein hysterisches Nervenbündel, das sofort alles infrage stellt, sich ärgert oder gar hasst für einen widerspenstigen Schmerz. ›Ich nehme jetzt eine Tablette, und dann geht es mir gleich wieder gut‹ – wie ließe sich zuversichtlicher, souveräner in einem Moment des Leidens über die Zukunft sprechen?
Die moderne Medizin hat unser Verhältnis zum Schmerz grundlegend verändert. Von Extremfällen abgesehen, ist der Schmerz kein Schicksal mehr, nichts, das ausgehalten oder hingenommen werden müsste, sondern eine Störung, die es möglichst schnell zu beheben gilt. Zwar haben die Menschen schon immer gegen den Schmerz gekämpft, mit Kräutern, Opiaten und bisweilen auch mit brutalen Methoden wie Schädelöffnungen und Hautritzungen, um die bösen Geister wieder aus dem Körper herauszulassen; aber erst mit der Einführung von Aspirin und Äthernarkose im 19. Jahrhundert begann ein Zeitalter, in dem der Schmerz immer gezielter und zuverlässiger beseitigt beziehungsweise vermieden werden konnte. Wer heute operiert wird, erlebt keine Tortur wie noch vor zweihundert Jahren, als chirurgische Eingriffe ohne Betäubung durchgeführt wurden; und dank schmerzstillender Mittel lassen sich in der Regel noch die hartnäckigsten Infekte, ja selbst schwere Verletzungen und fortgeschrittene Krebserkrankungen zumindest bis zu einem gewissen Punkt einigermaßen ertragen. Inzwischen gibt es Medikamente nicht nur gegen beinahe jeden organisch verursachten Schmerz, sondern auch gegen Depression,
Erschöpfung und Angst. Was in den achtziger Jahren Aspirin war, ist heute Fluoxetin, Metoprolol oder Duralozam: Nur schnell eine Tablette geschluckt, und schon fühlt sich die eben noch von Panikattacken geschüttelte Studentin, die ein Referat halten soll, so sicher wie Angela Merkel bei einer
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