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Wir Genussarbeiter

Wir Genussarbeiter

Titel: Wir Genussarbeiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Svenja Flaßpoehler
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sie findet vielmehr da statt, wo ich diesen Gegenstand tatsächlich als solchen erfahre . »Wir stehen«, schreibt Heidegger, »z. B. vor einem blühenden Baum – und der Baum steht vor uns. Er stellt sich uns vor. Der Baum und wir stellen einander vor, indem der Baum dasteht und wir ihm gegenüber stehen.« Nur wenn wir also die Vor-Stellung tatsächlich beim Wort nehmen und sie als eine Begegnung verstehen, wagen wir, so Heidegger weiter, den »Sprung« hinein ins Denken. »Wo spielt dieses Vorstellen, wenn wir einem blühenden Baum gegenüber, vor ihm stehen? Etwa in unserem Kopf? Gewiß; in unserem Gehirn mag mancherlei ablaufen, wenn wir auf einer Wiese stehen und einen blühenden Baum in seinem Leuchten und Duften vor uns stehen haben, ihn wahrnehmen. Man kann heute sogar die Vorgänge im Kopf als Gehirnströme durch geeignete Apparaturen der Umformung und Verstärkung akustisch vernehmbar machen und ihren Verlauf in Kurven nachzeichnen … Aber wo bleibt, um uns auf unseren Fall zu beschränken, wo bleibt bei den wissenschaftlich registrierbaren Gehirnströmen der blühende Baum? Wo bleibt die Wiese? Wo bleibt der Mensch?« Nicht die Neuronen in den Gehirnbahnen sind es, die denken, sondern der Mensch denkt;
der Mensch mit seinen Sinnesorganen sowie seiner Geschichte und seinen Erfahrungen, die er an die Welt heranträgt, so wie die Welt umgekehrt ihre Geschichte und Erfahrungen an den Menschen heranträgt.
    Der blühende Baum also lehrt uns: Das Denken findet weder einfach nur im Kopf noch ausschließlich am Schreibtisch statt. Woher soll sich das Denken denn speisen, wenn nicht aus der konkreten Erfahrung? Die Gedanken brauchen Futter, sonst verzehrt sich der Denker im Grübeln. Wie Antonius. Gequält blickt er nach oben, als wartete er auf den leuchtenden Einfall, aber der kommt nun einmal nicht aus dem Nichts. Wer inspiriert werden will, braucht nicht nur asketische Leere, die Abwesenheit irdischer Genüsse, sondern auch Fülle! Wir, die wir die christliche Tradition im Rücken haben und das Denken als eine einsame, abstrakte Angelegenheit begreifen, vergessen tatsächlich nur allzu leicht, dass man im antiken Griechenland noch ganz anders, nämlich draußen, in der Natur, den Straßen der Stadt und in Gemeinschaft zu philosophieren pflegte. Der griechische Philosoph Sokrates hat nicht in der Mönchszelle nachgedacht, sondern auf dem Marktplatz, beim Umherwandeln und im Gespräch mit Freunden, deren Erfahrungen, Meinungen oder auch Fragen das gemeinsame Philosophieren in Gang setzten. Im nächsten Kapitel wollen wir uns einem dieser Gespräche, das für die Verbindung von Genuss und Denken höchst aufschlussreich ist, etwas ausführlicher widmen. Geführt hat Sokrates es während jenes berühmten Gastmahls, zu dem der Tragödiendichter Agathon geladen hatte und bei dem es zumindest am Ende alles andere als asketisch zuging. Doch beginnen wir am besten von vorne.

Eros
Wie ein Dämon das Denken befruchtet
    Dieser kleine Ausflug in die griechische Antike handelt also vom Gastmahl des Agathon. Sokrates, der berühmte Müßiggang-Philosoph, trifft als Letzter bei dem Dichter ein, weil er, kurz bevor er dessen Haus erreicht, in einem benachbarten Hauseingang stehen geblieben ist, um einen Gedanken in Ruhe zu Ende zu denken. Als sich alle Geladenen beim Gastgeber eingefunden haben, beschließt man, anstatt wie sonst den Trinkritualen zu folgen, lieber zu philosophieren, nachdem sich nämlich am Abend zuvor schon einige der Gäste gehörig »benebelt« hatten. Ein gewisses Maß an Entsagung brauchten also offensichtlich auch die Griechen, um ins Denken zu kommen: Zwar sind die Gäste des Agathon von der Berghüttenaskese Heideggers weit entfernt, denn immerhin speisen sie üppig und verzichten zudem nicht völlig auf Wein, sondern verabreden lediglich, nur »nach Behagen zu trinken«; dem Rausch aber gibt man sich nicht hin, sondern, an seiner statt, der Philosophie.
    Das Gesprächsthema des Abends, darauf einigt man sich recht schnell, soll der Eros sein, der Gott der Liebe, welcher, da von den Dichtern sträflich missachtet, endlich gewürdigt werden müsse; und so verabreden die Gäste, nacheinander eine Lobrede auf diesen »uralten und gewaltigen Gott« zu halten. Sokrates, der am hinteren Ende des Tisches liegt, ist zuletzt an der Reihe. Warum, so fragt Sokrates seinen Vorredner, preist du den Eros als vollkommenen Gott, wenn er
doch der Gott der Liebe ist? Heißt Lieben nicht: etwas lieben? Etwas begehren?

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