Wir Genussarbeiter
langwierige Psychotherapie unumgänglich, denn mit bloßer Symptombekämpfung komme man in solchen Fällen nicht weiter. Auch psychisch bedingter Schmerz ist folglich nicht einfach nur peinigend, sondern gleichzeitig der einzige Weg zur Heilung: Den Schmerz ernst zu nehmen heißt, sich selbst ernst zu nehmen.
Heute aber sind wir immer weniger gewillt, die Widerspenstigkeit des Körpers zu akzeptieren: Er hat zu funktionieren und nicht zu rebellieren. Konzentrationsschwächen und Erschöpfungserscheinungen am Arbeitsplatz werden nicht mehr als Alarmsignal gedeutet, als ein Zeichen, dass der Körper sich ausruhen muss, sondern als Störung, die es
möglichst effizient zu beheben gilt. Laut einer Umfrage der Deutschen Angestellten-Krankenkasse nehmen mittlerweile allein in Deutschland 800 000 Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen regelmäßig Medikamente ein, um ihre Leistungsfähigkeit über das natürliche Maß hinaus zu steigern. »Am meisten werden Stimulanzien eingenommen, Medikamente, die zur Behandlung von Narkolepsie und ADHS entwickelt, geprüft und zugelassen sind«, sagt Jakob Hein, Oberarzt für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité. Modafinil, entwickelt für die seltene Schlafkrankheit Narkolepsie, und Ritalin, das bei einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADHS) verabreicht wird, gehören zu den begehrtesten Neuroenhancern. Und nicht nur vergleichsweise harmlose Erschöpfungserscheinungen, auch sogenannte Stimmungsschwankungen und Prüfungsängste – Euphemismen, hinter denen sich nicht selten ernst zu nehmende Depressionen und Angstzustände verbergen – werden heute immer häufiger mit Tabletten bekämpft: Warum erst eine langwierige Therapie beginnen, wenn doch übernächste Woche schon die Klausur ansteht und das Medikament binnen Minuten wirkt? Die Pharmaindustrie verdient ein Vermögen durch das sogenannte Hirndoping: Der weltweite Umsatz des US-Unternehmens Cephalon zum Beispiel hat sich seit der Jahrtausendwende verzehnfacht, weil sein Narkolepsiemedikament Virgil längst auch von Schichtarbeitern und jetlaggeplagten Wissenschaftlern eingenommen wird.
Der Körper wird dem Leistungsgedanken angepasst, zur Not auch pharmazeutisch. Ich muss so viel arbeiten, wie von mir gefordert wird oder ich selbst von mir fordere, das Gefühl für den eigenen Körper bleibt dabei auf der Strecke. Und apropos Strecke: Auch im Sport hat der Schmerz seine Warnfunktion mittlerweile in einem Maße eingebüßt, die besorgniserregend
ist. Zwar haben Menschen sich schon immer überanstrengt, um Weltrekorde zu brechen, aber noch nie war das Doping so sehr Teil des Sports wie heute. Wer sich mit anabolen Steroiden betäubt, spürt das Stechende des Schmerzes nicht mehr, sondern nur noch den unbändigen Wunsch zu gewinnen; und auch so mancher Hobbyläufer lässt sich den Belastungsschmerz im Knie lieber wegspritzen, als auf den alljährlichen Marathonlauf zu verzichten.
Die Erfahrung von Schmerz, so viel ist also klar, ist entscheidend für mein Verhalten mir selbst gegenüber. Doch auch für die Moral ist der Schmerz unabdingbar: Woher wüsste ich, was anderen wehtut, wenn ich nicht selbst wüsste, was Schmerzen sind? »Ein wirklich schmerzfreier Körper wäre die Verwirklichung der Utopie des total leidfreien Körpers«, schreibt Volker Caysa, »und das ist wohl der unmenschlichste Körper, der sich sowohl an sich selbst wie auch an anderen kein Leid vorstellen kann, der folglich auch nicht mit-leiden kann und der demzufolge, weil er keine Mindestvorstellung vom Schmerz hat, auch nicht weiß, was er anderen an Leid zufügt.« Tatsächlich beruht unser täglicher Umgang mit anderen Menschen ganz wesentlich auf der Erfahrung von Schmerz. Nur wenn ich weiß, wie eine Verletzung schmerzt, sei sie nun physisch oder psychisch, kann ich mich in einem leidenden Menschen erkennen; und nur wenn ich mit ihm mitzuleiden vermag, kann ich mich ihm gegenüber mitmenschlich verhalten. »Wie ist es nun aber möglich«, so fragte der Philosoph Arthur Schopenhauer, »daß ein Leiden, welches nicht meines ist, nicht mich trifft, doch ebenso unmittelbar, wie sonst nur mein eigenes, Motiv für mich werden, mich zum Handeln bewegen soll? Wie gesagt, nur dadurch, daß ich es, obgleich mir nur als ein Aeußeres, bloß vermittelst der äußeren Anschauung oder Kunde gegeben,
dennoch mitempfinde , es als meines fühle , und doch nicht in mir , sondern in einem Andern. « Man handelt moralisch nicht aus reiner Pflicht, meinte
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